Singens Südstadt ist nicht so schlecht, wie oftmals von ihr gesprochen wird. Aber klar, natürlich ist es hier grauer als an der Überlinger Seepromenade. Und wenn man bei Google nach dem oftmals geschmähten Stadtteil der Hegau-Metropole sucht, wird die Anfrage ergänzt durch das Wort „Kriminalität“. Die Südstadt hat aber auch andere Seiten, hat Typen – und einen ganz speziellen Fußballclub, der vor zwei Jahren schon scheintot darniederlag, jetzt aber Erinnerungen an längst vergangene Glanzzeiten weckt.

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Sicher ist, dass man auch mal laut sein muss, wenn man sich hier behaupten möchte. Rainer Herr ist Dipolm-Verwaltungswirt und obendrein 66 Jahre alt, da erwartet man eigentlich eher leise Töne. Aber dieser Herr Herr hat am Samstag gegen 16.50 Uhr eine Laune wie eine Nacktschnecke nach zehn Tagen Sonnenschein. 0:1 liegt des ESV Südstern gegen die SG Dettingen-Dingelsdorf II zurück, weil die Gäste durch Alen Rogosic (13.) in Führung gegangen waren und dann von zahlreichen Fehlern im Aufbauspiel der Singener profitierten.

Peckruhn trifft für Singen Video: Salzmann, Dirk

Dass sich drei seiner Spieler obendrein jeweils eine Gelbe Karte wegen Meckerns abgeholt haben, das „geht gar nicht“, schreit Herr heraus, dass es auf dem gesamten Sportplatz zu hören ist. Motivationsrede kann man das nennen, Oder einfach „Anschiss“.

Eine Stunde später ist der Puls wieder auf Normalbetrieb. Rainer Herr sitzt am Seitenrand, seine Mannschaft hat durch vier Treffer nach der Pause durch Kevin Peckruhn (49., 70.), Samet Yilmaz (65.) und Ahmet Balsüzen (68.) noch mit 4:1 gewonnen und damit als Aufsteiger nach vier Spielen noch keinen Punkt abgegeben. „Das war kein Selbstläufer heute“, berichtet er, „und das war mir im Vorfeld schon klar“.

Halbzeitansprache von Rainer Herr.
Halbzeitansprache von Rainer Herr. | Bild: Salzmann, Dirk

Der gute Saisonstart habe den ein oder anderen seiner Spieler vielleicht zu selbstsicher gemacht, dazu waren die Gäste der erwartet schwere Gegner. „Ich habe mich nach der ersten Halbzeit maßlos geärgert.“

Yilmaz trifft zum 2:1 für Singen Video: Salzmann, Dirk

Abhaken, das Positive suchen. „Die Mannschaft ist sehr jung und hat viel Potenzial“, erklärt Herr, warum es ihn in der Winterpause in die Südstadt, in die Kreisliga A verschlagen hat. „Und die Disziplin ist schon viel besser geworden in den vergangenen Wochen“, aber ja, „teilweise liegt das mit der Meckerei auch am Naturell meiner Spieler“. Südstadt eben. Scheiß Klischee.

Er kennt das. Eigentlich kennt Rainer Herr alles. Und jeden. Mit 27 Jahren begann seine Trainerlaufbahn, seit 30 Jahren hat er die A-Lizenz. Die Familie stammt aus Donaueschingen, Sein Vater Ernst war schon Trainer und ist im Schwarzwald bis heute eine Legende. „Es gibt ja Trainer, die sagen, dass sie unterhalb der Landes- oder Bezirksliga nicht trainieren. Bei ihm war das anders, er trainierte Mannschaften von der Verbands- bis zur Kreisliga. Er war nie mit einer Liga verheiratet, sondern mit einem Verein“, sagt der bald 66-Jährige, der diese Einstellung übernommen und sich längst einen eigenen Namen gemacht hat.

Balsüzen trifft zu 3:1 für Singen Video: Salzmann, Dirk

Beweis gefällig? Herr Herr, erinnern sie sich noch an alle ihre Vereine, bei denen sie Trainer waren? Es folgt eine Zeitreise im Stakkato: „TuS Blumberg, SV Weißenau, SV Vogt, TSG Bad Wurzach, FV Bad Saulgau, VfR Stockach, SC Markdorf, FC Böhringen, FC Bodman-Ludwigshafen, FC Welchschingen-Binningen, FC Singen, SC Bankholzen-Moos, FC Bodman-Ludwigshafen, SC Bankholzen-Moos, SV Gailingen.“

Labinot Nikqi, Vorsitzender Südstern Singen.
Labinot Nikqi, Vorsitzender Südstern Singen. | Bild: Salzmann, Dirk

Auch an anderer Stelle findet wenig später eine Zeitreise statt, wenngleich eine in die jüngere Vergangenheit. Labinot Nikqi ist Bauunternehmer, 41 Jahre alt und seit zwei Jahren der Vorstand bei den Südsternen. „Der Fußball ist wichtig für die Südstadt„, sagt er. An die goldenen Zeiten seines Vereins kann er kaum Erinnerungen haben. Ein Zuschauer älteren Semesters erzählt von damals, als man in der Schwarzwald-Bodensee-Liga mitspielte, einige Jahre sogar dem FC Singen den Rang abgelaufen habe. Und später, in den 80er-Jahren, ging es wieder hoch bis in die Verbandsliga. Danach folgte der Niedergang.

4:1 durch Peckruhn für Singen Video: Salzmann, Dirk

Vor zwei Jahren stand der Verein vor der Auflösung. Warum, weshalb, wieso – im Rückblick kam wohl vieles zusammen. Auf jeden Fall waren plötzlich nur noch ein Trainer und drei Feldspieler da. „Wir haben dann Leute überredet, Fußball zu spielen, die vorher noch nie gespielt haben“, erinnert sich Nikqi.

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Den Abstieg in die Kreisliga B konnte man so nicht verhindern. Die Aufbruchstimmung aber auch nicht. 28 neue Sponsoren kamen, wie Nikqi aufrechnet, die Kabinen im Hardt-Stadion wurden nach 60 Jahren endlich von der Stadt renoviert, obendrein kamen neue Spieler, mit denen der Club die Corona-Meisterschaft und damit die Rückkehr in die Kreisliga A errang. Mit Kevin Peckruhn vom Hegauer FV wurde dann noch ein Stürmer verpflichtet, der nach vier Spielen bereits zehn Treffer erzielt hat.

Kevin Peckruhn, Stürmer bei Südstern Singen
Kevin Peckruhn, Stürmer bei Südstern Singen | Bild: Salzmann, Dirk

Während Rainer Herr von Spiel zu Spiel sehen und frühestens im Oktober ein Saisonziel vorgeben möchte, träumen Nkqi und seine Spieler bereits von der Bezirksliga, ach was, der Landesliga – wie es eben so ist, wenn die Euphorie nach einem perfekten Saisonstart grenzenlos ist.

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Dass weiter geträumt werden darf, liegt auch an Herr. Vier Mal die Woche pendelt der zwischen Weingarten und Singen – zum Training, zum Spieltag, zur Gegnerbeobachtung, 35 000 Kilometer kommen im Jahr so zusammen. Warum er diesen Aufwand betreibt? „Ganz oder gar nicht, egal ob Verbands- oder Kreisliga. Meine Frau unterstützt mich bombastisch, auch meine beiden längst erwachsenen Söhne haben immer akzeptiert, dass der Papa am Wochenende zum Fußball statt zum Familienausflug ging.“

Singen singt nach dem Sieg Video: Salzmann, Dirk

Und ja, es macht ihm einfach immer noch Spaß. Der Fußball an sich, seine Entwicklungen, aber eben auch die Arbeit mit den Spielern. „Das ist ja jetzt meine vierte Spielergeneration, die ich erlebe.“ Kurz Pause, dann ein Nachsatz: „Und wissen Sie was? Ich glaube, das hält mich jung“.

Es tut sich eben was in der Südstadt. Was richtig positives.