Es gibt Sportarten, zu denen das Verletzungsrisiko gehört wie Trikot, Schläger oder Ball. Eishockeyspielern wird gerne mal auf den Zahn gefühlt, Boxer drücken gelegentlich ein Auge zu beim Gegner, beim Volkssport Fußball oder auch beim Handball werden Muskeln und Bänder oft bis zum Äußersten strapaziert.
„Dass auch Kunstturnen nicht ohne Risiko ist, war mir natürlich immer bewusst“, sagt Christian Dehm über seinen Sport. „Verschleißerscheinungen mit den Jahren, Probleme mit der Schulter, das ist üblich bei uns. Aber Fälle, bei denen etwas Schlimmes passiert, sind eigentlich sehr selten.“
Im zweiten Wettkampf der Saison
Seit dem 10. Oktober 2020 ist der 28-Jährige selbst so ein Fall. Die Münchriedhalle im Singener Süden: Schauplatz des zweiten Bundesliga-Wettkampfes der Saison für den Stadtturnverein, bei dem Christian Dehm seit fast 15 Jahren an die Geräte geht. Der Pfullendorfer fühlt sich „sehr gut, fit und stabil“, als er an den Barren geht. Nicht sein Lieblingsgerät, aber eines, an dem er durchaus Erfahrung und Erfolge aufweisen kann. Es läuft gut für Dehm. Fast perfekt. „Jetzt gib Gas“, pusht er sich selbst im Handstand, um ordentlich Höhe zu bekommen für den Abgang.

Schon als seine Finger sich vom Holm lösen, spürt er, nein weiß er, dass es nichts wird mit einer sauberen Landung. Dehms rechte Schulter kippt beim Doppelsalto nach hinten, er erreicht zu wenig Höhe für einen guten Abgang. In gehockter Haltung kommt er auf dem Boden auf. Der Soundtrack zu Dehms ganz persönlichem Horrorfilm: ein hässliches Knacken auf beiden Seiten, zum Glück im Livestream vom Singener Wettkampf gegen den TuS Vinnhorst nicht zu hören.
Christian Dehm jedoch weiß sofort, was Sache ist. „Beide Beine gebrochen“ – für die Diagnose braucht der Bundesligaturner keinen Arzt. Kaum ein Zuschauer in der Halle realisiert, was da gerade eben passiert ist, erst als Dehm lange liegen bleibt und von StTV-Trainer Axel Leitenmair und den herangeeilten Sanitätern betreut wird.
Beide Wadenbeine gebrochen
Als er aus der Halle abtransportiert wird, scherzt er trotz Schmerz und Schock noch, er könne als Turner doch eigentlich „im Handstand zum Krankenwagen laufen“. Er bleibt vernünftigerweise auf der Trage, ehe es mit Vollgas ins Singener Klinikum geht, wo Dehms Vermutung zur bitteren Realität wird: Beide Wadenbeine gebrochen, rechts ist auch noch das Syndesmoseband gerissen.
Christian Dehm bezeichnet sich selbst als „hundertprozentigen Optimisten“. So mit „Glas halb voll“ und allem Drum und Dran. „Als der Singener Arzt mir die Diagnose mitteilte, war ich erleichtert“, sagt er, „mir war klar, dass ich riesiges Glück hatte. Wenn ich auf dem Genick gelandet wäre...“ Ein Satz, der nicht beendet werden muss. Auch die zwischenzeitliche Angst, nie wieder turnen zu können, hat nach der erfolgreichen OP in Freiburg Platz gemacht für den festen Entschluss, „irgendwann wieder mal an die Geräte gehen zu können“.
Die Wohnung in Freiburg als Trainingsplatz
Irgendwann. Doch vorerst ist der Alltag mit allen seinen Hürden die Disziplin, in der er sich beweisen muss, die kleine Wohnung in Freiburg sein Trainingsplatz und die Krücken sein Sportgerät. Dank Platten, Schrauben und Schienen kann er den linken Fuß voll belasten, rechts zum Teil, sodass der Rollstuhl zum Glück nur als nutzloser Staubfänger in der Ecke steht.
Wenn alles wieder voll belastet werden kann, wird er wieder turnen. Das steht fest für Christian Dehm. Er weiß, dass es wichtigere Dinge gibt im Leben als Sport. „Aber er ist ein großer Teil von mir“, sagt der Student, der später mal Lehrer werden und Turner bleiben will. „Ob es wieder für die Bundesliga reichen wird, weiß ich natürlich nicht“, blickt er voraus in eine ungewisse Zukunft, „versuchen werde ich es aber auf alle Fälle“.
Auch an den vermaledeiten Barren will er irgendwann mal wieder gehen, vielleicht zuvor sportpsychologische Hilfe in Anspruch nehmen, damit nicht nur der Körper, sondern auch der Kopf auch mitmacht. Trotz der Erinnerung an den 10. Oktober, an dem Christian Dehms Karriere als Turner nicht geendet, sondern nur eine kleine Pause eingelegt hat.