Die Schweiz lockt auch viele deutsche Arbeitnehmer mit hohen Gehältern. Allein aus Südbaden pendeln rund 60.000 Grenzgänger zur Arbeit ins Nachbarland. Doch sind die Arbeitsbedingungen drüben wirklich so golden, wie sie auf den ersten Blick scheinen?
Wie sieht die Realität in der Schweiz tatsächlich aus – was läuft gut, wo hapert es? Der SÜDKURIER hat darüber mit Serge Gnos gesprochen. Er ist Co-Leiter der Gewerkschaft Unia in der Region Zürich-Schaffhausen. Die Unia ist mit rund 180.000 Mitgliedern die größte Gewerkschaft der Schweiz und setzt sich für Arbeitnehmerrechte in Industrie, Gewerbe, Bau und privaten Dienstleistungen ein.
Rahmenbedingungen: Kaum Gesetze, dafür Tarifverträge
Um die Schweizer Arbeitswelt einordnen zu können, muss man die Rahmenbedingungen kennen. „Auf Gesetzesebene kennt die Schweiz ein sehr liberales Arbeitsrecht“, erklärt Gnos. Wesentlich für die Arbeitsbedingungen sind Tarifverträge, die in der Schweiz Gesamtarbeitsverträge (GAV) genannt werden.
Und im Gegensatz etwa zu Deutschland, wo die Anzahl tarifgebundener Betriebe seit Jahrzehnten abnimmt, habe die Tarifbindung in der Schweiz sogar eher zugenommen, so der Gewerkschafter.
Dabei gibt es neben GAV, die nur auf Betriebsebene gelten, auch solche, die für eine gesamte Branche allgemeingültig sind. Das kann sowohl auf Bundes- als auch auf Kantonsebene erfolgen.
Laut den aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2018 arbeiteten mehr als 2,1 Millionen Schweizer Arbeitnehmer tarifgebunden – bei rund fünf Millionen Erwerbstätigen insgesamt.
Gehalt in der Schweiz: „Grundsätzlich ein ansprechendes Lohnniveau“
Neben den GAV seien die sogenannten flankierenden Maßnahmen entscheidend, so Gewerkschafter Gnos weiter. Diese wurden 2004 eingeführt, als zwischen der Schweiz und der Europäischen Union die Personenfreizügigkeit vereinbart worden war. Sie sollen minimale Arbeits- und Lohnbedingungen in der Schweiz garantieren.
„Eine große Errungenschaft ist dabei, dass gilt: gleiche Arbeit am gleichen Ort zum gleichen Lohn.“ Davon profitieren nicht nur Grenzgänger, die in Deutschland wohnen und im Nachbarland arbeiten. „Ein ausländisches Küchenbauunternehmen etwa muss sich auch daran halten, wenn seine Mitarbeiter in der Schweiz Küchen montieren.“
Und aus Gewerkschaftssicht wirkt diese Regelung, betont Gnos. „Es funktioniert auch wirklich, es gibt Kontrollen. Und klar gibt es noch Probleme mit Lohndumping, aber ohne die flankierenden Maßnahmen wäre die Situation massiv schlechter.“
Auch in Sachen Gehälter sieht Gnos die Schweiz auf einem guten Weg. „Grundsätzlich herrscht ein ansprechendes Lohnniveau.“ Es gebe zwar auch Tieflohnbranchen – Gnos nennt die Landwirtschaft, Reinigung und körpernahe Dienstleistungen wie Nagelstudios als Beispiele. Und Frauen seien beim Einkommen über alle Branchen hinweg nach wie vor benachteiligt. „Aber auch bei den Lohnunterschieden wird es besser, wenn auch aus unserer Sicht viel zu langsam.“
Arbeitszeiten in der Schweiz: „Viele gehen nicht früher in Rente, weil sie wollen, sondern weil sie schlicht nicht mehr können“
Trotzdem läuft laut dem Gewerkschafter in der Schweiz nicht alles rund. Zwar würden die gesetzlich als Maximum festgelegten 50 Arbeitsstunden pro Woche für gewerbliche Berufe und 45 für alle anderen Berufszweige in der Regel unterschritten. „Die Norm sind etwa 42 Stunden pro Woche.“
Auch schreibe das Arbeitsgesetz vor, dass Überstunden, die das festgelegte Maximum von 45 Stunden überschreiten, durch freie Tage oder eine finanzielle Entschädigung abgegolten werden müssen.
Dennoch sei die Arbeitsbelastung im europäischen Vergleich sehr hoch, so Gnos. Und nicht alle könnten es sich leisten, ihr Pensum einfach auf 80 Prozent die Woche zu reduzieren, um weniger arbeiten zu müssen. „Eine Pharma-Managerin kann sich das vielleicht leisten, aber nicht die Kassiererin an der Supermarktkasse.“
Zwar käme die Kassiererin so immer noch auf ein Bruttogehalt von umgerechnet deutlich über 3000 Euro im Monat. Das sei angesichts der Schweizer Lebenshaltungskosten aber sehr wenig, betont Gnos.
Und die langen Arbeitszeiten hätten Folgen: „Stressbedingte Krankheiten nehmen zu. Viele, die in Teilzeit wechseln oder früher in Rente gehen, tun dies nicht freiwillig, sondern einfach weil sie schlicht nicht mehr können und nehmen dafür entsprechende finanzielle Einbußen in Kauf.“
Jedoch gibt es auch hier je nach GAV massive Unterschiede. So sind laut Gnos im Bauhauptgewerbe Arbeitswochen von 40,5 Stunden sowie Frührenten ab 60 Jahren die Norm.
Andere, die etwa in der Pflege oder im Baunebengewerbe arbeiteten, hätten wiederum schlechtere Bedingungen und müssten mit einer kleineren Rente rechnen, wenn sie früher als mit 64 (Frauen) oder 65 (Männer) in den Ruhestand wollen.
Urlaub und Feiertag in der Schweiz: Schwankend, aber weniger als in Deutschland
Wie bei der Reduzierung des Arbeitspensums gilt laut Gnos auch beim Urlaub: „Den Luxus, unbezahlten Urlaub zu nehmen, ist für viele eine Illusion.“ Allerdings betont der Gewerkschafter zugleich, dass die gesetzlich vorgeschriebenen 20 bezahlten Urlaubstage in der Realität häufig überschritten würden.
„In vielen GAV sind 25 Urlaubstage vorgesehen sowie die Regel: Je älter, desto mehr Ferientage.“ Laut dem Bundesamt für Statistik der Schweiz kamen Arbeitnehmer zwischen 20 und 49 Jahren im Schnitt auf rund fünf Urlaubswochen, Über-50-Jährige auf 5,6 Wochen – also 25 bis 28 Tage.
In Deutschland besteht laut Bundesurlaubsgesetz für Arbeitnehmer mit einer Fünf-Tagewoche zwar ebenfalls nur ein Mindestanspruch von 20 Tagen pro Jahr. Im Schnitt kamen Vollzeitbeschäftigte aber gemäß Statistischem Bundesamt 2018 in den meisten Branchen auf mindestens 28 Urlaubstage.
In puncto Feiertage wiederum gilt in Deutschland wie der Schweiz dieselbe Faustregel: In einst katholisch dominierten Gebieten gibt es mehr Tage, die dem Sonntag gleichgesetzt sind.
So kennen traditionell protestantisch geprägte Kantone wie Zürich nur acht bis neun Feiertage, während etwa der italienischsprachige Kanton Tessin auf seiner Internetseite fünfzehn Feiertage auflistet. In Baden-Württemberg gibt es 2022 zwölf Feiertage.
Familie und Beruf: „Da ist die Schweiz ein Entwicklungsland“
Viel mehr Handlungsbedarf als bei der Anzahl freier Tage sieht Gewerkschafter Gnos bei einem anderen Thema: „Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist die Schweiz ein Entwicklungsland.“
Den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschaftsurlaub, wie die Elternzeit für Frauen in der Schweiz heißt, von 14 Wochen sowie den Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen bezeichnet Gnos als „lächerlich“.
Hinzu käme, dass der Wiedereinstieg in den Beruf gerade für Frauen erschwert werde. Vor allem, weil sowohl das vorschulische Krippensystem als auch Ganztagsschulen-Konzepte „unterentwickelt“ seien. Je nach Wohnort müsse man soviel für Krippenplätze zahlen, dass es sich finanziell schlicht nicht lohne, wenn beide Elternteile arbeiteten.
Zwar gibt es einkommensabhängige staatliche Zuschüsse für die Kinderbetreuung. Diese fallen jedoch je nach Gemeinde sehr unterschiedlich aus.
Laut einer von der Schweizer Großbank Credit Suisse 2021 veröffentlichten Analyse zahlt ein Haushalt mit einem jährlichen, mittleren Bruttoeinkommen von 110.000 Franken je nach Wohnort pro Jahr zwischen 4700 und 24.200 Schweizer Franken für die vor- oder außerschulische Kinderbetreuung.
Kündigungen: „Ein Arbeitsvertrag kann relativ leicht aufgelöst werden“
Und in noch einem Punkt sieht Gewerkschafter Gnos „die Schweiz unterentwickelt“. Beim Kündigungsschutz. Generell gilt für Kündigungen, solange ein GAV oder Arbeitsvertrag keine weiteren Regelungen vorsieht, dass bis zum neunten Anstellungsjahr eine Frist von zwei, danach von drei Monaten einzuhalten ist.
„Und ein Arbeitsvertrag kann relativ einfach aufgelöst werden“, erklärt Gnos. Vor einer Kündigung vorübergehend geschützt sind: schwangere Frauen – rückwirkend auf den ersten Tag der Schwangerschaft und bis 16 Wochen nach der Geburt des Kindes – sowie Schweizer, während sie Militär- oder Zivildienst leisten.
Für Personen, die krankgeschrieben sind oder einen Unfall hatten, gilt je nach Anstellungsdauer jeweils mindestens eine Sperrfrist von 30, 60 oder 90 Tagen, während der ihnen nicht gekündigt werden darf. Diese Sperrfristen können aber durch schriftliche Absprachen, Arbeitsverträge oder einen GAV geändert werden.
Die gesetzlich festgelegte Mindestdauer für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall beträgt im ersten Anstellungsjahr drei Wochen, danach erhöht sie sich je nach Kanton und Anstellungsjahr auf einen bis vier Monate. In Deutschland sind grundsätzlich sechs Wochen Lohnfortzahlung garantiert.