Eines will sie gleich klarstellen: „Ich halte mich nicht für arm“, sagt Eleonore Hopf, als sie in einem der Beratungszimmer bei der Organisation Pro Senectute in Kreuzlingen Platz nimmt. Die 83-jährige Rentnerin lässt sich nicht gerne in Schubladen stecken – auch wenn sie statistisch in diese fällt. Seit 1989 lebt sie im schweizerischen Kreuzlingen. Die frühere Dolmetscherin, Übersetzerin und Lehrerin hat als Alleinerziehende drei Kinder großgezogen. Heute bekommt sie trotz eines Lebens voller Arbeit nur eine kleine Rente.
Ohne staatliche Zuschüsse käme die gebürtige Berlinerin, die in Überlingen als Tochter von Kriegsflüchtlingen aufwuchs, nicht über die Runden. Sie ist eine von 300.000 von Altersarmut bedrohten Bürgern in der Schweiz, wie eine aktuelle Studie der Stiftung Pro Senectute ergab. Die Organisation berät ältere Menschen bei Finanz- und Rechtsfragen. Die Nachfrage wächst. Schon jetzt sind nach Schätzungen der Organisation fast 50.000 Schweizer Bürger auswegslos arm.
13,9 Prozent der Rentner über 65 Jahren haben demnach weniger als 2279 Franken pro Monat zu Verfügung – der absoluten Armutsgrenze in der Schweiz. Das ergab eine Erhebung der Stiftung. 20 Prozent der Rentner sind demnach mindestens armutsgefährdet, weil sie weniger als 2506 Franken monatlich zur Verfügung haben. Damit ist das Problem nicht kleiner als in Deutschland: Hier galten laut Statistischem Bundesamt 2021 19,3 Prozent der Ruheständler als armutsgefährdet.
Schmale Rente
Im Fall von Hopf bedeutet das: Neben 620 Franken aus der Schweizer Grundrente, der AHV, erhält sie noch 840 Franken aus der deutschen Rentenkasse. Wegen ihrer geringen Verdienste hatte Hopf keinen Zugang zur sogenannten zweiten Säule des Schweizer Rentensystems, in das man zusätzlich einzahlen kann – allerdings erst ab 21.000 Franken Jahreseinkommen. Ein privates Vermögen besitzt die Seniorin ebenso wenig.
Dagegen ist die Ausgabenliste lang. Allein für ihre Wohnung bezahlt sie 1360 Franken Miete. Hinzu kommen etwa 100 Franken monatlich für Strom, Wasser und Heizung. „Das wird wohl bald drastisch mehr werden“, fürchtet sie schon jetzt mit Blick auf die steigenden Energiekosten. Und allein mit diesen beiden Kosten ist ihre Rente schon weg.
Doch mit Haftpflicht- und Krankenversicherung kommen nochmal 415 Franken monatlich hinzu. Weitere 100 Franken werden für ihr Festnetztelefon fällig – die Enkel leben nun einmal in Deutschland. Ein Mobiltelefon besitzt sie nicht. Für Lebensmittel und andere alltägliche Ausgaben braucht sie etwa 700 Franken im Monat. „Drunter schaffe ich einfach nicht“, sagt die Waldorflehrerin, die bis heute noch aushilft und Unterricht gibt, wenn jemand aushilft. Die Rechnung ist klar: Ohne Unterstützung wäre die Seniorin aufgeschmissen.
Unwissen und Scham
Dass diese ihr rechtlich zusteht, wusste Hopf lange nicht. Erst ein Flyer der AHV, der darauf aufmerksam machte, dass sie sogenannte Ergänzungsleistungen in Anspruch nehmen dürfe, habe sie überzeugt, diese Möglichkeit zu nutzen, erzählt sie. Sie suchte eine Beratungsstelle von Pro Senectute erst vor einigen Jahren auf, seither geht sie dort regelmäßig hin, nimmt an Kursen teil und lässt sich beraten.

Durch ihre finanzielle Situation bekommt die Deutsche seither den höchsten Satz der staatlichen Leistungen. Fast 1900 Franken im Monat. Experten gehen davon aus, dass Schweizer Rentner durchschnittlich mindestens 3200 Franken brauchen, um auszukommen. Hopf hat dieses Niveau nur mit den Hilfszahlungen erreicht. Dass sie auf staatliche Hilfe angewiesen ist, ist für sie mit Scham behaftet: „Das ist mir bis heute unangenehm“, sagt Hopf.
Sozialarbeiter Raimund Disch kennt diese Scham – und die Nöte der Menschen, die hierher kommen. 60 Prozent der Kunden brauchen finanzielle Beratung und Unterstützung. Etwa 2000 Beratungen zählen allein die Beratungsstellen von Pro Senectute im Thurgau. Mit den steigenden Energiekosten rechnet die Stiftung mit zusätzlichen Fällen – und hat bereits eine Hotline eingerichtet.
Vielfältige Gründe für Altersarmut
Die Ursachen der Betroffenen sind vielfältig, sagt er. Dennoch kommen in jüngster Zeit Faktoren hinzu, die die Altersarmut in der Schweiz vergrößern. So seien die Mieten fast überall gestiegen, die Vergütungen, die Bedürftige erhalten, seien aber „teils sehr klein oder reichen nicht aus“, so Peter Burri, Specher von Pro Senectute.
Und: „Viele die in Pension kommen, haben in Niedriglohnsegment gearbeitet. Dann ist es schwierig, eine zweite Säule aufzubauen“, erklärt Burri mit Blick auf die berufliche Altersvorsorge, in die man erst ab einem Jahreseinkommen von mehr als 21.000 Franken einzahlen kann. Für die heutige Rentnerin Hopf war das nicht möglich.
Genau deshalb fordert Pro Senectute ein Umdenken der Politik. „Das müsste angepasst werden, damit auch Niedriglohnverdiener und Arbeitnehmer in Teilzeit berücksichtigt werden, insbesondere Frauen“, ergänzt Burri mit Blick auf die heutigen Renternerinnen, die häufig noch nach der klassischen Familienaufteilung zu Hause blieben und die Kinder versorgten.
Umgang ganz unterschiedlich
Wie die Betroffenen mit ihrer Situation zurechtkommen, hängt laut Sozialarbeiter Disch auch davon ab, wie diese bisher gelebt haben: „Wer früher schon mit wenig auskommen musste, hat es leichter als jene, die vorher 12.000 bis 15.000 Franken im Monat ausgaben und jetzt mit etwa mehr als 3000 auskommen müssen“ – etwa aufgrund eines Unfalls, einer chronischen Krankheit, Scheidung oder Privatinsolvenz.
Hopf ist Sparsamkeit gewohnt. Alles, was die heute 83-Jährige erreichte, hat sie sich erarbeitet. Zunächst als Übersetzerin und Dolmetscherin in München und Frankfurt – das Studium selbst finanziert.
Als alleinerziehende Mutter dreier Kinder musste sie sich auf Teilzeitarbeit beschränken. Zahlungen ihres Ex-Mannes für die Kinder hat sie nur anfangs erhalten, erzählt sie, dann blieben sie ganz aus. Auf ihr Recht pochen wollte Hopf nicht. Stattdessen bildete sie sich zur Walddorflehrerin fort, zog nach Kreuzlingen, um wieder am See zu sein, den sie seit ihrer Kindheit vermisste.
Wenig Spielraum
Nun muss die Rentnerin jeden Franken umdrehen. In ihrer heimeligen Altbauwohnung in einem Obergeschoss einer Kreuzlinger Arztpraxis empfängt sie trotzdem gerne Gäste – lädt zu Kaffee und Kuchen ein oder bestellt ehemalige Kollegen von der Schule zum Mittagessen ein. „Das habe ich in der Coronazeit gemerkt“, sagt sie: „Wie sehr ich die sozialen Kontakte brauche.“
Die Rentnerin kommt gerade von einem Italienischkurs, den sie sich nur leisten kann, weil die Kosten für sie übernommen werden. Sozio-kulturelle Teilhabe nennt man das bei der Beratungsstelle. Für viele alleinstehende ältere Menschen wie Hopf ist sie unabdingbar.

Engagiert dabei
Von ihrer schmalen Rente zahlt sie noch jährlich 100 Franken an die Naturschutzorganisation WWF, als Mitglied einer christlichen Organisation 80 Franken im Monat. Ihren Enkeln schickt sie Pakete mit Schweizer Leckereien. Obwohl sie selbst so wenig hat.
Lieber verzichtet sie an anderer Stelle. Beim Einkaufen führt sie eine genaue Ausgabenliste. Wenn sie kocht, dann mit System, um Strom zu sparen: Linsen für drei Tagesportionen, eine Pizza geteilt durch drei. Jede Woche backt sie sich zudem ein Brot, das für sieben Tage reichen muss. Damit es frisch bleibt, wird es im Kühlschrank aufbewahrt und morgens kurz aufgetoastet, erzählt sie. „Das schmeckt dann noch ganz wunderbar.“
Trotz aller Einschränkungen sagt Hopf: „Ich bin so dankbar, dass ich in der Schweiz leben kann“, sagt sie immer wieder. Die große Hilfsbereitschaft des Landes, die auch ihr Sohn mittels eines Stipendiums für sein Studium erfuhr, schätzt sie bis heute.