Heute haftet ihm der Ruf von Massenproduktion an: In Deutschland sind laut Weinbauverband rund 13.000 Hektar mit Müller-Thurgau-Reben bestockt, was etwa 13 Prozent der gesamten deutschen Rebfläche entspricht. Und auch rund um die Ruine des Hohentwiel nimmt der Müller-Thurgau einen gewichtigen Anteil ein. Dabei werde er aber immer hochwertiger ausgebaut, betont Jürgen Diederich vom Staatsweingut Meersburg angesichts der Auszeichnung eines Müller-Thurgaus vom Hohentwieler Olgaberg bei internationalen Weinwettbewerben: „Trotz seiner oft simplifizierten Wahrnehmung als unkomplizierter Alltagswein, birgt der Müller-Thurgau das Potenzial, Weinliebhaber auf der ganzen Welt zu faszinieren.“

Der Müller-Thurgau war laut Weinbauverband von 1975 an zwanzig Jahre lang mit einer Anbaufläche von rund 25 Prozent die meist verbreitetste Rebsorte Deutschlands, ehe er vom Riesling an der Spitze der deutschen Weine abgelöst wurde. Dabei sollte die Neuzüchtung der weißen Rebsorte von Hermann Müller aus Tägerwilen im Thurgau einst möglichst gar nicht nach Deutschland kommen. Dass es vor 100 Jahren schließlich doch anders gekommen ist, daran erinnert aktuell eine Ausstellung im Frauenfelder Naturmuseum – denn vor 100 Jahren begann mit einer Schmuggelfahrt über den Bodensee die Erfolgsgeschichte der Müller-Thurgau-Rebe.

Die neu entstandene Rebsorte sei in Deutschland zunächst ignoriert worden, auch als Müller die schweizerische Versuchsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wadenswil als Direktor übernahm. Damals hatte er seine besten Sämlinge mit in die Schweiz gebracht und ihnen den Namen „Riesling x Silvaner“ gegeben. Auf einer Versuchsparzelle der Thurgauer Fachstelle Obst und Rebbau auf dem Arenenberg wurden die Reben angepflanzt, wie Eva Riediker und Urs Leuziger vom Naturmuseum Thurgau herausgefunden haben. Aber erst zwei Jahre vor seinem Tod begann die eigentliche Erfolgsgeschichte der Müller-Thurgau-Rebe.

Eva Riediker und Urs Leuziger haben im Naturmuseum Thurgau die Sonderausstellung “Bacchus & Co – Wein am Bodensee„ zusammengestellt. Ein ...
Eva Riediker und Urs Leuziger haben im Naturmuseum Thurgau die Sonderausstellung “Bacchus & Co – Wein am Bodensee„ zusammengestellt. Ein Highlight ist ein Gibsabdruck des römischen Grabmals Neumagener Weinschiff“. | Bild: Thomas Güntert

Schlecht bestellt war es zwischen den Weltkriegen am Ufer des Bodensees um den Weinbau laut den Historikern aus Frauenfeld: Die Hauptrebsorte Elbling war zu sauer und Missernten hätten den Winzern zu schaffen. Johann Baptist Röhrenbach, auf dem Schlossgut Kirchberg in Immenstaad markgräflicher Gutsverwalter und Wirt der Schlossgaststätte, hatte von der neuen Rebsorte erfahren und wollte sie – wie die Schweizer Historiker berichten – unbedingt anpflanzen. Der Markgraf von Baden habe dafür aber keine Notwendigkeit gesehen und verwies auf das Saatgut-Handelsgesetz, das eine Einfuhr über die Reichsgrenze nicht erlaubte.

Unterhalb vom Arenenberg wurden die 400 Müller-Thurgau Stecklinge von Albert Röhrenbach und Gottfried Ainser in Empfang genommen und ...
Unterhalb vom Arenenberg wurden die 400 Müller-Thurgau Stecklinge von Albert Röhrenbach und Gottfried Ainser in Empfang genommen und über den See geschmuggelt. Die Aufnahme entstand im Jahr 1919. | Bild: Archiv ZVG

Eine List war erforderlich: Im April 2025 ruderte Röhrenbachs 22-jähriger Sohn Albert mit dem befreundeten Fischer Gottfried Ainser eines Nachts mit dem Ruderboot über den Bodensee, wo unterhalb von Schloss Arenenberg am Ufer 400 Pfropfreben bereitlagen. Als die beiden jungen Burschen von der Ruderfahrt zurückkehrten, pflanzte Röhrenbach die Reben heimlich an.

Doch der Schmuggel flog auf und Röhrenbach durfte lediglich einen kleinen Teil selbst keltern und in der Schlossgaststätte verkaufen. Der neue Wein wurde jedoch unter Weinkennern schnell zum Gesprächsthema. Röhrenbach war indessen erzürnt, weil seine Vorgesetzten die Bedeutung der neuen Rebsorte für die Bodensee-Region weiterhin nicht erkannten. Bereits ein Jahr später wurde die Schmuggeltour wiederholt und Röhrenbach verteilte die Reben heimlich an interessierte deutsche Winzer.

Eine Büste vor dem Geburtshaus von Hermann Müller erinnert in der Müller-Thurgau-Straße in Tägerwilen an den großen Schweizer Wein-Pionier.
Eine Büste vor dem Geburtshaus von Hermann Müller erinnert in der Müller-Thurgau-Straße in Tägerwilen an den großen Schweizer Wein-Pionier. | Bild: Thomas Güntert

Der Müller-Thurgau verbrachte allerdings fast ein Vierteljahrhundert im Schattendasein. Erst nach 1949 wurde die Rebsorte auch auf anderen Rebflächen des Markgrafen von Baden angepflanzt. Röhrenbach starb im Jahr 1956 im gesegneten Alter von 87 Jahren.

Im Thurgauer Naturmuseum in Frauenfeld wurde bereits die Sonderausstellung „Bacchus & Co – Wein am Bodensee“ eröffnet.
Im Thurgauer Naturmuseum in Frauenfeld wurde bereits die Sonderausstellung „Bacchus & Co – Wein am Bodensee“ eröffnet. | Bild: Thomas Güntert

Heute arbeiten die Winzer am Bodensee daran, den Ruf des Müller-Thurgau wieder aufzupolieren. Verbände planen im Jubiläumsjahr 2025 zahlreiche Veranstaltungen, wie der Verein Erlebnis-Müller-Thurgau ankündigt. Er wurde eigens für die koordinierte Organisation des Jubiläumsjahres gegründet und soll nach Abschluss des Jubiläumsjahres wieder aufgelöst werden.

Im Naturmuseum Thurgau in Frauenfeld wird aufgrund des 100-jährigen Jubiläums der legendären Schmuggelfahrt die Sonderausstellung „Bacchus & Co. – Wein am Bodensee“ bis zum 11. Mai gezeigt. Die Ausstellung vereint verschiedene Weingeschichten von den Kelten bis ins napoleonische Zeitalter. Neben vielen Funden aus dem Thurgau sind die beiden Bacchus-Statuetten aus den römischen Städten Augusta Raurica, dem heutigen Augst bei Basel, und Aventicum – Avenches im Waadtland – Glanzlichter der Ausstellung.

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Die Branchenverbände Bodenseewein Meersburg, Thurgau Weine und Schaffhauser Blauburgunderland kündigen zudem an, im April eine Nachstellung des historischen Rebenschmuggels zu inszenieren und im Mai soll am Bodensee ein Velo- und Wanderweg mit digitalen Info-Punkten zum Leben von Hermann Müller eröffnet werden. Im Juli gibt es den Müller-Thurgau-Degustations-Cup, bei dem die besten Müller-Thurgau-Weine des Bodenseeraums prämiert werden.