Ein halbes Dutzend Männer ist im Klettgauer Ortsteil Erzingen gerade am Werk, manche von ihnen mit nacktem Oberkörper, denn es ist heiß an diesem Tag. Mit Baggern und Schaufeln graben sie Straßen und Wege auf, um Glasfaserkabel für schnelles Internet in jedes Haus zu verlegen. Baumaschinen und Transportfahrzeuge mit lettischen Kennzeichen stehen nahe der deutsch-schweizerischen Grenze.

Seit Herbst sind Dutzende Bauarbeiter, Ingenieure und Projektleiter aus dem Baltikum damit beschäftigt, den Breitbandausbau in den sechs Ortsteilen der 7600-Seelen-Gemeinde Klettgau voranzutreiben. Sie alle haben den rund 2000 Kilometer langen Weg aus Lettland zurückgelegt, um im äußersten Süden Deutschlands Geld zu verdienen.

Weshalb eine Spezialeinheit ausrückte

Doch seit einer Woche fehlt der lettischen Baufirma ein Mitarbeiter, wie mehrere Kollegen unabhängig voneinander dem SÜDKURIER bestätigen: Der 39-jährige Arbeiter wollte am Abend des 22. Juni beim Diskonter Lidl im Grenzort Lottstetten einkaufen gehen.

Auf diesem Parkplatz vor dem Lidl in Lottstetten fand der Zugriff durch schwer bewaffnete Elitebeamte am 22. Juni 2023 statt.
Auf diesem Parkplatz vor dem Lidl in Lottstetten fand der Zugriff durch schwer bewaffnete Elitebeamte am 22. Juni 2023 statt. | Bild: René Laglstorfer

Am Parkplatz vor dem Supermarkt nahm ihn ein Spezialeinsatzkommando der baden-württembergischen Polizei gegen 19.20 Uhr vorläufig fest. „Er ist wegen des Verdachts des Totschlags dringend tatverdächtig und befindet sich seither in Untersuchungshaft“, teilt Rahel Diers von der Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen mit.

Die Gründe, warum für die Festnahme eigens eine Eliteeinheit der Polizei aus Göppingen anrückte, lagen laut der Staatsanwältin „insbesondere im schweren Tatvorwurf als Kapitalverbrechen und in der mutmaßlichen Tatausführung“. Auch die „Eigensicherung“ spielte beim Zugriff eine Rolle.

Beschuldigter schweigt

Der 39-jährige soll, wie berichtet, in der Nacht auf den 9. Juni im benachbarten Jestetten einen 31-jährigen Wildcamper aus der Schweiz mit einem massiven Ast getötet zu haben. Darauf lassen übereinstimmende DNA-Spuren schließen.

Der St. Galler hatte die Nacht laut Polizei in einer zwischen zwei Bäumen aufgespannten Hängematte direkt am Rheinufer verbringen wollen und soll teilweise auch barfuß unterwegs gewesen sein. Er starb an Ort und Stelle an einem Schädelhirntrauma.

Die Alte Zollbrücke verbindet Jestetten – links im Bild – mit dem schweizerischen Rheinau. Etwa 400 Meter flussabwärts ...
Die Alte Zollbrücke verbindet Jestetten – links im Bild – mit dem schweizerischen Rheinau. Etwa 400 Meter flussabwärts befindet sich am deutschen Rheinufer der Tatort. | Bild: René Laglstorfer

Ob sich der mutmaßliche Täter und sein Opfer nur zufällig am Rheinufer begegneten oder zuvor bereits kannten, stehe noch nicht fest. „Zu den genauen Hintergründen der Tat sowie zum Tatablauf dauern die Ermittlungen an“, so Staatsanwältin Diers. Zudem habe der Beschuldigte von seinem Recht Gebrauch gemacht, die Aussage zu verweigern, als er dem Haftrichter vorgeführt wurde.

Mutmaßlicher Täter war in Heimat straffällig

Betroffen zeigen sich mehrere Kollegen des Festgenommen auf den Baustellen in den Klettgauer Grenzdörfern. „Wir können uns nicht erklären, warum er das getan haben soll“, sagt einer von ihnen dieser Zeitung. Ein anderer ergänzt: „Man kann nicht in die Köpfe von Menschen hineinschauen.“

Der 39-Jährige habe sich im Büro in der lettischen Hauptstadt Riga für die Arbeit in Deutschland gemeldet und sei erst wenige Wochen vor der Tat hier angekommen. „In Lettland soll er auch ein Verbrechen begangen haben, aber wir wissen nicht was“, sagen mehrere Mitarbeitende.

Rahel Diers ist Staatsanwältin und Pressesprecherin bei der Anklagebehörde in Waldshut-Tiengen.
Rahel Diers ist Staatsanwältin und Pressesprecherin bei der Anklagebehörde in Waldshut-Tiengen. | Bild: Schlichter, Juliane

Auf Anfrage bestätigt Staatsanwältin Diers: „Es gibt Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes Vorverhalten des Beschuldigten in Lettland, was nun im Wege der internationalen Rechtshilfe ermittelt wird.“ Welches mutmaßliche Verbrechen dies gewesen sein könnte, will sie noch nicht preisgeben. In Deutschland war der 39-Jährige vor der Tat jedenfalls nicht polizeilich bekannt.

Verdächtiger für Tötungsdelikt in Jestetten ist ein „Nichtbürger“

Anders als das Freiburger Polizeipräsidium und die Waldshuter Staatsanwaltschaft zuletzt mitgeteilt haben, handelt es sich bei dem Festgenommenen nun doch nicht um einen lettischen Staatsbürger. „Nach derzeitigem Ermittlungsstand war der Beschuldigte zuletzt in Lettland wohnhaft. Er ist im Besitz eines lettischen Nichtbürger-Passes“, so Staatsanwältin Diers.

Auch im Juli 2023, rund einen Monat nach dem Fund einer männlichen Leiche am Jestetter Rheinufer ist die Polizei weiter vor Ort.
Auch im Juli 2023, rund einen Monat nach dem Fund einer männlichen Leiche am Jestetter Rheinufer ist die Polizei weiter vor Ort. | Bild: Ralf Göhrig

Solche „Nichtbürger-Pässe“ sind eine Besonderheit des baltischen Staates. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 hat das junge Lettland aus Zweifel an der Loyalität seiner russischsprachigen Minderheit diese nicht eingebürgert – bis heute. Zwar gelten diese Menschen im Land nicht als Staatenlose, die Vereinten Nationen sehen die lettischen Nichtbürger aber genau als solche an.

Im Vorjahr gab es in Lettland knapp 200.000 sogenannte „Nichtbürger“, etwa zwei Drittel davon sind ethnische Russen. Betroffen von den fehlenden Bürgerrechten in Lettland sind aber auch Ukrainer, Weißrussen, Polen, Litauer sowie Juden – obwohl sie zum Teil seit Generationen im Land leben.

„Partymusik und Grölen“

Laut mehreren Mitarbeitenden auf den Baustellen, die vereinzelt selbst Russisch als Muttersprache sprechen, könnten Alkohol und weiche Drogen eine Rolle bei der Tat gespielt haben. „Wenn man Gras raucht und Wodka trinkt, dann passiert so etwas“, sagt ein Bauarbeiter und schüttelt den Kopf.

Ein Schweizer Paar machte dabei eine unangenehme Erfahrung. Es übernachtete vor einigen Wochen in einer Unterkunft in einem Klettgauer Ortsteil, etwa 15 Autominuten vom späteren Tatort am Rheinufer entfernt. Unter dem selben Dach waren auch drei Arbeiter aus Lettland untergebracht.

Laut deren Angaben waren sie beim Breitbandausbau in Baden-Württemberg beschäftigt. „Als wir ins Bett gegangen sind, hat es begonnen mit lauter Partymusik und Grölen von Betrunkenen“, erzählt die Schweizerin, die anonym bleiben will. Die halbe Nacht habe man so durchgestanden.

„Konnten nicht mehr laufen und sprechen“

Als es morgens um 7 Uhr wieder mit dem Lärm losgegangen sei, habe sich das Paar bei den Unruhestiftern beschwert. „Einer hat sich entschuldigt, der zweite war ein wenig und der dritte sehr wütend“, erzählt die Frau. Letzterer soll ihren Mann genötigt haben, frühmorgens Wodka „auf die Freundschaft“ zu trinken. „Aber um 8 Uhr am Morgen wollte er das nicht.“

Am Abend habe das Schweizer Paar dann beobachtet, wie „einer der sehr betrunkenen Männer“ aus dem Fenster auf den Kopf stürzte. „Sie konnten nicht mehr laufen und nicht mehr sprechen, da haben wir ein mulmiges Gefühl bekommen und die Vermieterin verständigt“, so das Paar.

„Mir tun sie leid“

Die Eigentümerin bestätigt dieser Zeitung den Vorfall. Drei Führungskräfte der lettischen Baufirma seien auf ihre Veranlassung hergekommen und hätten den betrunkenen Männern die Leviten gelesen. „Einer von ihnen wurde am nächsten Morgen mit dem Flugzeug zurück nach Lettland geschickt“, so die Frau. Die anderen beiden mussten bleiben und aufräumen.

Laut der Vermieterin sei dies während mehrerer Monate der einzige derartige Vorfall gewesen. „Mir tun die Arbeiter leid, weil sie über Monate von ihren Familien getrennt sind“, sagt sie und fügt hinzu: „Aber wenn sie noch einmal so betrunken gewesen wären, hätte ich die Polizei gerufen.“ Laut Staatsanwaltschaft ist dieser Vorfall nicht polizeilich bekannt.

Bis zu zehn Jahre Haft drohen

Inzwischen sind die beiden verbliebenen Arbeiter anderswo untergebracht. Mehrere Vermieter versichern, keinerlei Probleme mit den freundlichen Arbeitern aus Lettland zu haben.

Dem 39-jährigen Tatverdächtigen drohen bei einer Verurteilung wegen Totschlags bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe. Für ihn gilt bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung die Unschuldsvermutung.