Als dann der nackte Mann auf der Bühne des Opernhaus Zürich steht, wird endlich klar, worum es hier, in dem Stück „Leben mit einem Idioten“, gehen soll. Der Nackte ist der Idiot. „Ich“ (die Hauptfigur hat weiter keinen Namen) musste sich als Strafe für ein nicht näher beschriebenes Vergehen einen Idioten aussuchen, um ihn bei sich wohnen zu lassen. Er hat sich für den Nackten entschieden. Seine Frau (Susanne Elmark) ist entsetzt. Sie starrt den nackten Mann an, fasziniert und abgestoßen zugleich.
Er rührt an Tabus mit seiner Nacktheit, ist aber auch unleugbar attraktiv (Campbell Caspary). Und wohl deswegen fiel auch die Wahl des Ehemann (Bo Skovhus) auf ihn – da kann er noch so sehr behaupten, der Nackte wirke auf ihn wie ein Intellektueller. Dabei bringt der nicht mehr als ein Wörtchen heraus: „Äch“, das er allerdings variantenreich anzuwenden weiß.
Ein irres Kunstprojekt
Vom ersten Moment an nennt Ich seinen Idioten „Süßer“ und „Schätzchen“. Bald findet allerdings auch die Frau Gefallen an ihm. Und gerade weil der „Süße“ nichts spricht, taugt er wunderbar als Projektionsfläche für verdrängte und unerfüllte Sehnsüchte. Der Idiot aber lässt sich auf beide ein, zuerst auf sie, dann auf ihn. Man weiß nicht genau, inwiefern das Kalkül ist, denn der Idiot scheint in Wirklichkeit ein Künstler zu sein, ein Performer, der mit seinem Körper arbeitet.
Vielleicht sind auch diese Frau, dieser Mann für ihn nichts weiter als ein Kunstprojekt. Jedenfalls wird er zum Sprengstoff für die Ehe, und das endet böse: der Mann bringt seine Frau, die ihn wegen der Beziehung zu dem Jüngeren als „degeneriert“ beschimpft, mit einer Gartenschere um. Ein Psychokrimi.
Parodie auf Lenin
Eigentlich ist das Textbuch „Leben mit einem Idioten“ des russischen Autors Viktor Jerofejew, aus dem der deutsch-russische Komponist Alfred Schnittke eine Oper gemacht hat (uraufgeführt 1992 in Amsterdam), kein Psychokrimi und auch kein Stück über ein homosexuelles Coming Out. Zumindest nicht vordergründig. Jerofejew schrieb es 1980, als die Sowjetunion den 90. Geburtstag von Lenin beging.
„Ganz Moskau war im Taumel“, erklärt der heute 77-jährige Schriftsteller rückblickend im Interview mit dem Opernhaus Zürich. „Man konnte sogar Socken mit Lenins Profil kaufen. Das war schon alles sehr absurd.“ Kurz zuvor war Jerofejew wegen der Beteiligung an einem unliebsamen Literaturalmanach aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen worden.
Jerofejew also schrieb „Leben mit einem Idioten“ und nannte den Idioten „Wowa“ – es ist die Koseform von Lenins Vornamen Wladimir. Auch sonst deutet mancherlei daraufhin, dass Jerofejew Lenin vor Augen hatte, als er die surreale Erzählung schrieb. Es ist eine sarkastische Parabel darüber, wie „das Absurde beginnt, die Welt zu beherrschen“ (Jerofejew). Wowa ist dabei eine zerstörerische Kraft. Er ist gewalttätig, spielt Mann und Frau gegeneinander aus, und doch sind ihm beide hörig. Er ist es auch, der die Frau ermordet – nicht der Ehemann.
Volkslied trifft auf brutale Rhythmen
Als Alfred Schnittke Jerofejews Erzählung als Opernstoff entdeckte, war er gerade aus der Sowjetunion nach Deutschland übergesiedelt. Es war die Zeit der Perestrojka. Natürlich verstand er, worauf Jerofejew in seiner Erzählung anspielt. Und er verdichtete sie mit seiner Musik zusätzlich: Er verwendete russische Volkslieder, Freiheits- und Revolutionslieder, Verballhornungen sowjetischer Propagandachöre, Märsche und Walzer und ließ sie auf hysterische Gesangslinien oder auf brutal einprügelnde Rhythmen prallen.
Schnittke selbst sprach von „Polystilistik“, weil seine Musiksprache keinem einheitlichen Stil folgt, sondern mit Zitaten und Referenzen arbeitet. Vieles davon ist für das westliche Ohr heute nur noch schwer zu entschlüsseln. Spaß macht die Musik in ihrer Heterogenität aber trotzdem (Leitung: Jonathan Stockhammer). Man könnte auch von Diversität sprechen – die Musik passt durchaus in unsere Zeit.

Welcher Regisseur scheint geradezu prädestiniert dafür, diesen Stoff auf die Bühne in Zürich zu bringen? Klar, Kirill Serebrennikov. Die Absurditäten eines unberechenbaren Systems musste der Russe am eigenen Leib erfahren, als er 2017 unter fadenscheinigen Gründen festgenommen wurde und mehrere Jahre im Hausarrest verbringen musste. Seine Arbeit setzte er dennoch fort und inszenierte aus dem Arrest heraus, etwa mithilfe von Videos, mehrere Produktionen in Westeuropa, darunter Mozarts „Così fan tutte“ in Zürich.
„Putin verdient keine Oper“
Wie also würde er Wowa zeigen, der in anderen Inszenierungen bereits in die Kostüme von Napoleon oder Hitler geschlüpft war? Doch Serebrennikov hatte keine Lust auf das Naheliegende: Er entzog sich der Erwartung, eine Oper über die politischen Zustände in Russland zu machen. „Ich will keine Oper über Putin machen. Ich will ihm kein Kunstwerk widmen. Er verdient keine Oper.“ Und so vermied er alles Politische, selbst der Name Wowa fällt kein einziges Mal.
Statt dessen arbeitet er die Homosexualität des Ich heraus. Den langen Tango, den Schnittke wie eine Zwischenakt-Musik in seine Partitur gebaut hat, nutzt Serebrennikov für einen Rückblick auf Szenen aus Ichs Leben – darunter die Trennung von einem Mann zugunsten der Hochzeit mit einer Frau. Immer wieder hat er sich gesellschaftlichen Erwartungen gebeugt – aber auch versucht, ihnen zu trotzen.
Die Szenen wirken ein wenig erzwungen, und tatsächlich wird Serebrennikovs Regieansatz erst in dem Moment glaubhaft, als der athletische Nackte auftaucht und für Irritationen sorgt. Der allerdings ist eigentlich nur als Double für den Idioten-Sänger (Matthew Newlin) gedacht, stiehlt diesem aber komplett die Show.

Übrigens ist Serebrennikov in Russland staatlicherseits mindestens zwei Mal an Arbeiten gehindert worden, mit denen er sich mit homosexuellen Künstlern auseinandersetzen wollte: Einmal in einem Film über den russischen Komponisten Peter Tschaikowski, ein anderes Mal in einem Ballett über den Tänzer Rudolf Nurejew, der 1993 an Aids gestorben war. Statt dessen hat Serebrennikov nun Schnittkes/Jerofejews Lenin-Parodie entsprechend gegen den Strich gebürstet. Nicht alles davon wirkt im Ergebnis schlüssig – aber ein politisches Statement Richtung Putin-Russland ist es auf seine Art dann eben doch geworden.
Weitere Aufführungen: 8., 10., 14., 16., 22., 29. November; 1. Dezember. Tickets und Infos: http://www.opernhaus.ch