Grelles Licht, Lautsprecherdurchsagen und hunderte Produkte in den Regalen: Einkaufen kann eine Reizüberflutung sein. Die vielen Gerüche zwischen Fleisch- und Käsetheke, Werbebildschirme oder lange Schlangen an der Kasse können bei manchen Menschen regelrecht Stress auslösen.
Was bei vielen bereits die Nerven strapaziert, sorgt bei Menschen mit Autismus für eine Überforderung. Denn Autisten haben Schwierigkeiten, Sinnesreize ihrer Umwelt wahrzunehmen und zu verarbeiten. Im Supermarkt kann das oft zu einer großen Herausforderung werden.
Autistin: „Habe beim Einkaufen immer einen hohen Puls“
„Supermarktbesuche sind grundsätzlich sehr anstrengend“, sagt Andrea Fleckner. Die 47-Jährige ist Autistin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei autistischen Kindern in Engen. Die größte Reizüberflutung entstehe durch die vielen Waren und die Herausforderung, Entscheidungen treffen zu müssen. „Ich habe beim Einkaufen daher immer einen hohen Puls und eine flache Atmung.“

„Oft verspüre ich den Drang, so schnell wie möglich alles von der Einkaufsliste zu holen und schnellstmöglich wieder rauszugehen“, erzählt sie. Wenn sie den Supermarktbesuch hinter sich gebracht habe, freue sie sich immer. „Es vergeht aber trotz Liste kein Einkauf, wo ich nicht etwas vergesse.“
Zwei Mal die Woche wird es in Schweizer Supermärkten still
Um den Supermarktbesuch für Menschen mit Autismus einfacher zu machen, findet in 13 Spar-Filialen in der Schweiz zwei Mal wöchentlich die „Stille Stunde“ statt. Immer dienstags von 15 bis 17 Uhr und donnerstags von 18.30 bis 20 Uhr wird in den Märkten unter anderem das Licht gedimmt, auf Lautsprecherdurchsagen verzichtet und Waren werden in diesem Zeitraum nicht in die Regale sortiert.
Die Idee der Stillen Stunde stammt ursprünglich aus Neuseeland. Hans Ruedi Schnellmann, Leiter mehrerer Supermärkte in der Nordschweiz, las vor zwei Jahren davon. Er habe selber einen Familienangehörigen sowie einen Mitarbeiter mit Autismus, erklärt er. Das habe ihn umso mehr motiviert, das Konzept auch in seinen Filialen einzuführen.
Schnellmann: „Menschen mit Autismus werden oft ausgegrenzt“
„Ich finde die Stille Stunde wichtig, da Menschen mit Autismus in unserer Gesellschaft oft ausgegrenzt werden“, sagt er. Dass die Menschen im Internet einkaufen oder für sich einkaufen lassen, könne keine Alternative sein. „Wir wollen die Aktion anbieten, damit sie mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.“
Autismus
Laut Schnellmann beeinflussten diese vier Stunden in der Woche nur unwesentlich den Umsatz. „Es geht hier nicht um das Geschäftliche“, sagt er. „Vielmehr geht es darum, für mehr Akzeptanz von Menschen mit Autismus zu sorgen.“ Insgesamt sei es ein Pilotprojekt, das positive Resonanz auf allen Seiten hervorrufe. „Auch ältere Menschen genießen die Stille Stunde“, sagt der Unternehmer.
Mitarbeiterin: „Die Stille Stunde wird gut angenommen“
Während der Stillen Stunde tragen Mitarbeiter der Supermärkte immer eine gelbe Warnweste. Auf dem Rücken wird auf die Aktion hingewiesen, zudem sollen die Mitarbeiter mit den Westen besser als solche erkannt werden.

„Die Stille Stunde wird von den Kunden gut angenommen“, sagt Sila Saritas, Mitarbeiterin einer Spar-Filiale in Turgi (Kanton Aargau). Während dieser Zeit sortiert sie keine Waren ein, sondern mache andere, leisere Aufgaben wie beispielsweise die Flure zu fegen. „Ich bin bei der Stillen Stunde bereits mit mehreren Menschen mit Autismus ins Gespräch gekommen.“
Fleckner: Einkauf war sehr angenehm, aber...
In dem Spar-Supermarkt in Turgi hat die Autistin Andrea Fleckner die Stille Stunde ausprobiert. Sie sagt über ihren Einkauf: „Ich fand es sehr angenehm.“ Aber grundsätzlich mache die Stille Stunde ihren Einkauf nicht stressfrei. „Das geht gar nicht“, sagt sie. „Einkaufen ist und bleibt eine Reizüberflutung.“
Die Stille Stunde sei aber trotzdem sinnvoll, sagt sie, „alleine schon, weil ich das Gefühl habe, ernst genommen zu werden.“ Sie wünscht sich, dass die Stille Stunde in Supermärkten und anderen Bereichen des öffentlichen Lebens zur Normalität werde. „In den wenigsten Bereichen gibt es ein Bewusstsein für Menschen mit Autismus. Gerade im Kulturbereich ist noch viel Luft nach oben.“
Wann kommt die Stille Stunde auch nach Deutschland?
Während die Stille Stunde in der Schweiz in 13 Spar-Filialen getestet wird, gibt es in Deutschland bislang nur zwei Supermarktfilialen in Nordrhein-Westfalen, die die Stille Stunde anbieten. Eine Umfrage unter den Supermarktketten im Südwesten zeigt, dass das möglicherweise so bleiben wird.
So schreibt Anna-Maria Lennertz, Pressesprecherin von Aldi Süd, auf Nachfrage dieser Zeitung: „Derzeit gibt es bei Aldi Süd diesbezüglich keine Planungen.“ Kunden könnten sich aber jederzeit an Mitarbeiter wenden, wenn sie Unterstützung beim Einkauf benötigten.
Bei Edeka-Südwest, könne man dazu keine allgemeine Aussage treffen, sagt Pressesprecher Florian Heitzmann auf Nachfrage dieser Zeitung. Die Einführung der Stillen Stunde obliege den Kaufleuten, die die Edeka-Märkte betreiben. „Einige verzichten bereits seit Langem auf Hintergrundmusik und sorgen beispielsweise auch mit breiten Gängen für eine entspannte und ruhige Atmosphäre“, so Heitzmann.