Long Covid – für Betroffene ist es eine Qual, für Forscher bisher ein Rätsel. Umso mehr lassen die Ergebnisse von Zürcher Immunologen aufhorchen, über die das ‚St. Galler Tagblatt‘ kürzlich berichtet hat. Die Forscher machen eine fehlgeleitete Reaktion im Komplementsystem für die Langzeitfolgen von Corona verantwortlich machen.

Bislang habe man immer nur Teilaspekte der Krankheit identifiziert wie erhöhte Entzündungswerte, Blutgerinnsel, überaktive Antikörper und Autoimmunreaktionen. „Nun haben wir aber ein zentrales Puzzleteil entdeckt, das all diese Faktoren verbindet“, sagt Studienleiter Onur Boyman, Professor an der Uni Zürich und Direktor der Klinik für Immunologie am Unispital Zürich.

„Die Entdeckung ist hochrelevant und ein erster Hinweis auf die Mechanismen, die hinter Long Covid stehen könnten“, kommentiert Professor Christian Karsten die Studie einer Schweizer Forschergruppe. Für Hoffnungen auf eine Heilung ist es allerdings noch zu früh, betont der Wissenschaftler vom Institut für Systemische Entzündungsforschung in Lübeck.

Ein Patient sitzt in einer Klinik am Teutoburger Wald, in der Long-Covid-Patienten behandelt werden, zur Überprüfung seiner ...
Ein Patient sitzt in einer Klinik am Teutoburger Wald, in der Long-Covid-Patienten behandelt werden, zur Überprüfung seiner Lungenfunktion in einem Bodyplethysmographen. | Bild: Sina Schuldt

Das Komplementsystem ist Teil des angeborenen Immunsystems. Es wirkt im ganzen Körper und reagiert schnell und wirksam auf Eindringlinge. In einer Art Dominoeffekt werden hierbei mehr als 30 Proteine aktiviert, um Infektionen zu bekämpfen.

Normalerweise wird das System von fein aufeinander abgestimmten Mechanismen kontrolliert, die eine ungewollte oder kontinuierliche Aktivierung der Komplementproteine verhindern. Tatsächlich wurde bei Long-Covid-Patienten sowohl während der akuten Erkrankung als auch mindestens sechs Monate danach eine gestörte Aktivierung des Komplementsystems festgestellt, so das Züricher Studienergebnis. Erst wenn sich das System beruhigt, klinge die Erkrankung ab.

60 Medikamente in Studien erprobt

Ist das Long-Covid-Rätsel also gelöst? Bisher hat noch keine Therapie zuverlässig funktioniert.
„Das unregulierte Komplementsystem treibt uns schon länger um“, sagt Karsten. Er ist einer der Gründer des 2019 ins Leben gerufenen Arbeitskreises Komplement-Systemunter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.

Hauptanliegen des Arbeitskreises ist es, die Komplementforschung zu stärken und Kooperationen auszubauen. Unter anderem auch, um die klinische Forschung zu fördern und Therapien zu entwickeln.

Professor Christian Karsten, Institut für Systemische Entzündungsforschung, Uni Lübeck.
Professor Christian Karsten, Institut für Systemische Entzündungsforschung, Uni Lübeck. | Bild: Guido Kollmeier/Uni Lübeck

Dass das Komplementsystem eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung von Infektionen spielt, wisse man schon seit Jahrzehnten, bestätigen auch die Schweizer. Allerdings ging man dabei von akuten Infektionen aus. Deshalb habe man es im Zusammenhang mit Langzeitfolgen nie im Detail angeschaut. Für die aktuelle Studie hat das Team um Boyman 113 Covid-19-Patienten bis zu einem Jahr nach der Infektion begleitet, 40 von ihnen litten an Long Covid.

Ein Mann trainiert an einem Laufband in Niedersachsen, Bad Rothenfelde, um seine Ausdauer nach einer Corona-Infektion zu stärken.
Ein Mann trainiert an einem Laufband in Niedersachsen, Bad Rothenfelde, um seine Ausdauer nach einer Corona-Infektion zu stärken. | Bild: Sina Schuldt

Den Studienteilnehmenden wurde Blut entnommen, das auf mehr als 6500 Proteine untersucht wurde, das heißt auf fast alle, die im Blutkreislauf des Menschen vorkommen. Dann wurde geprüft, welche Proteine sich zwischen den Long-Covid-Betroffenen und den vollständig Genesenen am stärksten unterschieden. Und das waren eindeutig die Komplementproteine. Zirkulieren diese im Blut, schadet das dem Körper nicht. Unkontrolliert aktiviert können sie jedoch körpereigene Zellen und Organe zerstören.

Über einzelne Fallstudien habe man auch in Deutschland schon zuvor einen Zusammenhang mit Covid erkannt. Daher sei das Ergebnis der Schweizer eigentlich keine Überraschung. Bei Autoimmunerkrankungen und neurodegenerativen Erkrankungen wie Myasthenia gravis werden bereits Medikamente eingesetzt, die in das Komplementsystem eingreifen und die unkontrollierte Aktivierung dieser Proteine blockieren.

Eine Million Betroffene allein in Deutschland

Die Erkenntnisse der Schweizer Kollegen könnten jetzt dazu beitragen, die Wirksamkeit dieser Medikamente auch bei Patienten zu untersuchen, die an Long-Covid erkrankt sind, sagt Karsten. Dies wäre sicher sinnvoll aber auch aufwändig und teuer, weiß der Immunologe. Aber: Sowohl Tests als auch Therapien wären lukrativ, stellt Boyman fest.

Fatigue gehört neben Luftnot und kognitiven Störungen zu den häufigsten Symptomen von Long Covid und Post Covid.
Fatigue gehört neben Luftnot und kognitiven Störungen zu den häufigsten Symptomen von Long Covid und Post Covid. | Bild: Jochen Tack

Eine Übersichtsarbeit im Fachblatt „Clinical Microbiology and Infection“ vom vergangenen Jahr ermittelte rund 60 Medikamente, die derzeit in Long-Covid-Studien erprobt werden – etwa Entzündungshemmer und Immunsuppressiva, die schon für andere Krankheiten zugelassen sind.

Mindestens zehn Prozent aller Infizierten weltweit, das sind rund 65 Millionen Menschen, kämpfen mit den Spätfolgen einer Corona-Infektion, so das Ergebnis einer neuen Studie. Allein in Deutschland geht man von mindestens einer Million Betroffenen aus. Das Spektrum der Symptome ist vielfältig: Chronische Müdigkeit, Atemnot, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme und depressive Verstimmung sind nur ein paar Beispiele der mehr als 200 bekannten Symptome von Long Covid.

Das würde auch die These des Komplementsystems als Verursacher bestärken und Long Covid als eine systemische Krankheit definieren, also eine, die den ganzen Körper betrifft und physische, psychische und kognitive Auffälligkeiten zeigt, sagt Boyman.