Die Frankfurter Allgemeine Zeitung wird 70 Jahre alt, und im Zuge ihres Geburtstags ist aus ihrem Archiv ein bemerkenswerter Artikel aufgetaucht. Es handelt sich um eine Konzertkritik aus dem Jahr 1965: Am 11. September geben die Rolling Stones in Münster ihren ersten Auftritt auf europäischem Festland. Ein historischer Moment, beneidenswert, wer dabei sein darf.
Der Kritiker der FAZ allerdings zeigt sich überfordert, sieht bloß Männer, die die Haare „länger tragen als Mädchen“ und hört eine „erbärmlich einfallslose primitive Musik“. „Man begreift es nicht“, stöhnt er, um dann doch so etwas wie einen – scheinbaren – Versuch des Verstehens zu unternehmen. Offenbar, so lautet seine Erklärung des Phänomens, gehe es dieser Jugend schlicht zu gut: „Der Überschuss an Kräften findet kein Objekt. Man ergibt sich der Betäubung aus Mangel.“
Heute, ein halbes Jahrhundert später, macht dieser wiederentdeckte Artikel im Internet die Runde – zur allgemeinen Belustigung. Dabei sollte uns das Lachen bei genauerer Lektüre im Halse stecken bleiben.
„Lächerlich unmännlich“
Wenn in dieser Kritik von „seltsam affenähnlichen Bewegungen“ und „lächerlich unmännlich gekleideten, behaarten Wesen“ die Rede ist, zeigt sich nämlich der Ungeist, aus dem manche Autoren dieser Zeit ihre rassistisch homophoben Assoziationen schöpften. Als „Affen-“ und „Negermusik“ hatten die Nazis den Swing bezeichnet, „unmännlich“ und „weibisch“ zu sein galt ihnen als Wesensmerkmal von Homosexuellen: Selbst 20 Jahre nach Kriegsende war dieses sprachliche Erbe noch erschreckend wirkmächtig.
Im vorliegenden Fall ist dieser Umstand besonders gruselig, denn Karl Korn, der Verfasser dieser Zeilen, war in der NS-Zeit unter anderem mit einer widerlichen Lobesyhmne auf Goebbels‘ antisemitischen Propagandafilm „Jud Süß“ in Erscheinung getreten. Da erklärt also einer, der gestern noch daran mitgewirkt hat, das Land und seine Kultur in Schutt und Asche zu legen, der heutigen Jugend, was erbärmlich und primitiv ist. Wer sich schon immer fragte, wie sich bis 1968 bei jungen Menschen so viel Wut anstauen konnte: Dieser Text liefert die Antwort.

Bemerkenswert ist der Artikel allerdings nicht allein wegen seiner Offenlegung der gesellschaftlichen Zustände in den 60er-Jahren. Wichtiger ist seine mahnende Funktion über die Zeit hinaus.
„Man begreift es nicht“
Denn auch heute geben manche Erscheinungsformen der Jugendkultur Anlass für Befremden. Es ist im Unterschied zu damals nun eine von linksliberalen statt konservativen Werten geprägte ältere Generation, der mit Blick auf manche Tendenzen in der aktuellen Rapmusik Karl Korns Wendung „Man begreift es nicht“ in den Sinn kommen mag.
Zwar unterscheidet sich die geäußerte Kritik an provozierenden Stilmitteln der HipHop-Kultur im Stil erheblich von den bornierten Tiraden in den 60er-Jahren. Zu erkennen ist gleichwohl auch heute wieder eine Tendenz zu Pauschalurteilen und moralischer Überheblichkeit. Der Versuch, auf diese Weise einer aufkeimenden Jugendkultur das Wasser abzugraben, ist schon vor 50 Jahren gescheitert. Übrigens: Bei der FAZ schreiben heute exzellente Musikkritiker.