Da sieht man mal, was Charts-Erfolge heutzutage wert sind: Im vergangenen März erklomm die 1989 in New York gegründete Band Dream Theater mit ihrem Longplayer „Distance Over Time“ den Spitzenplatz der deutschen Album-Hitparade – an und für sich ein beachtlicher Erfolg für eine nicht dem Mainstream-Musikbereich zuzuordnende Rock-Gruppe. Doch nur etwa 1000 Fans fanden sich auf dem Singener Rathausplatz ein, als die fünf Musiker hier ihr letztes Konzert der 2019er Europa-Tour gaben, als Auftakt für das diesjährige Hohentwiel-Festival. Derart abgesackt sind in den letzten Jahren die CD-Verkaufszahlen, dass die Charts nur noch bedingt aussagekräftig für die Beliebtheit eines Popmusik-Acts sind – das war vor noch gar nicht so langer Zeit deutlich anders.

Wie auch immer: All diejenigen, die gekommen waren – und es waren in erster Linie Metal-Fans, wie den Aufdrucken auf den T-Shirts der Besucher zu entnehmen war – kamen wohl voll und ganz auf ihre Kosten. Macht- und druckvoll spielten die Pioniere des so genannten Progressive Metal auf – einer Kombination aus gängigem Heavy Metal und dem „Prog Rock“ der 1970er Jahre, für den etwa die frühen Genesis, Emerson, Lake & Palmer und die frühen Pink Floyd stehen. Gemeinsam mit den heute nicht mehr existierenden britischen Porcupine Tree und den (gleichfalls britischen) Anathema bildeten Dream Theater lange Zeit auch die Speerspitze dieses Subgenres, das über eine stetig wachsende Kultgefolgschaft verfügt.

Macht- und druckvoll spielte die Pionierband des Progressive Metal in Singen auf. Hier Bassist John Myung und Frontmann James LaBrie.
Macht- und druckvoll spielte die Pionierband des Progressive Metal in Singen auf. Hier Bassist John Myung und Frontmann James LaBrie. | Bild: Tesche, Sabine

Zwei der fünf Musiker waren schon vor 30 Jahren bei der Gründung der Gruppe dabei (Gitarrist John Petrucci und Bassist John Myung), Sänger James LaBrie stieß 1991 dazu, Keyboarder Jordan Rudess 1999 und Drummer Mike Mangini 2010. Letzterer ersetzte Mike Portnoy, einst der Hauptsongschreiber der Band – dass seine Ex-Kollegen seinen Weggang offenbar mühelos wegsteckten, war seinerzeit ein beliebtes Diskussionsthema unter beinharten Dream-Theater-Fans.

Songs aus dem aktuellen Erfolgsalbum „Distance Over Time“ bildeten das Grundgerüst der Setlist in Singen (vier von insgesamt zehn präsentierten Stücken), und fast schon orchestral mutete mitunter der Sound der Band an, der streckenweise mit beachtlicher Lautstärke über den Rathausplatz schallte, aber dennoch sauber und klar war. Den Fans war die volle Dröhnung offensichtlich gerade recht, denn Hunderte Hände reckten sich immer wieder begeistert der Bühne entgegen, mit Zeige- und kleinem Finger das Symbol für Metal („M“) formend. All diese neuen Kompositionen tendierten überwiegend mehr in den Metal- als in den Prog-Rock-Bereich und wurden mit enorm viel Pomp und Pathos dargeboten – was aber sehr gut passte, denn der machtvolle Sound, den vor allem Organist Rudess und Gitarrist Petrucci erzeugten, sorgte schon rein akustisch für eine gehörige Portion Theatralik.

Totenkopf am Mikrofonständer

Apropos Theatralik: Eine spektakuläre Bühnenperformance lieferte Frontmann LaBrie ab, schwang immer wieder mal seinen mit einem Totenkopf verzierten Mikrofonständer durch die Luft und erklomm auch regelmäßig eine hinter und über dem Drum-Set aufgebaute Nebenbühne. Seine Stimme passt besser zu den eher metal-beeinflussten Stücken der Band, für die komplexeren, „progressiven“ Songs tönt sie etwas zu markig und kraftvoll. Kein Zufall deshalb, dass bei Letzteren lange, ausufernde Instrumental-Improvisationen dominierten, etwa bei „Peruvian Skies“, einem der Klassiker im Band-Repertoire (vom 1997er Longplayer „Falling Into Infinity“). Bei ganz besonders lyrischen Passagen erinnerte Petruccis Spiel sogar ein wenig an dasjenige Steve Hacketts, des ehemaligen Genesis-Leadgitarristen, dessen Weggang einst das Ende der Prog Rock-Phase der Band einläutete.

„In The Presence Of Enemies, Part 1“ war ein weiterer Höhepunkt, das Intro zum Konzeptalbum „Systematic Chaos“ (von 2007). Insbesondere hier (aber natürlich auch bei allen anderen Songs) demonstrierte Organist Jordan Rudess seine Klasse und sorgte mit seinem virtuosen Spiel für regelmäßigen Szenenbeifall im Publikum. Sein Keyboard ließ sich drehen, ein verblüffender Effekt, und dann und wann schnallte er sich sogar ein tragbares Tasteninstrument um – was den großen Vorteil hatte, dass er mit ihm posieren konnte wie mit einer Elektrogitarre. Kein Zweifel: Was ihre instrumentalen Fähigkeiten betrifft, sind sowohl er als auch John Petrucci über jeden Zweifel erhaben – und Myung und Mandini an Bass und Drums lieferten dazu ein solides Rhythmusfundament.

Hat wohl Zukunft: die Band Mister Misery, hier Gitarrist und Sänger Harley Vendetta.
Hat wohl Zukunft: die Band Mister Misery, hier Gitarrist und Sänger Harley Vendetta. | Bild: Tesche, Sabine

Es ist wohl nicht allzu riskant, Dream Theater eine noch glänzendere Zukunft vorherzusagen – das Potenzial ist zweifellos vorhanden, und auch die Bandchemie scheint zu stimmen. Und beides trifft übrigens auch auf die Vorband dieses Abends zu: die vier Musiker der Band Mister Misery, die allesamt so aussahen, als seien sie Marylin Mansons Söhne. Wer auch immer bei diesem Teil des Konzerts am Mischpult saß, ist definitiv taub, aber die gewaltige Lautstärke konnte nicht verbergen, dass sich immer wieder mal richtig hübsche Melodien hinter diesem ganzen Gitarrenlärm versteckten. Während des Dream Theater-Auftritts mischten sich die vier Jungs dann sogar unters Publikum – und sahen sich prompt einer Vielzahl von Selfie-Anfragen gegenüber, die sie alle freundlich und geduldig abarbeiteten. Wenn das kein Hinweis auf künftigen Superstar-Status ist . . .