Frau Mühl, trotz immer neuer Fernseh-Reportagen über die schlimmen Zustände in den Nähwerkstätten von Bangladesch kaufen wir munter weiter die Billigkleidung unserer Textil-Discounter. Gleichzeitig fordern viele Bürger von unseren Politikern mehr Mitgefühl im Umgang mit ihnen selbst ein. Haben wir ein verlogenes Verhältnis zur Empathie?

Wir können nicht permanent mit allen Menschen mitfühlen, denen es schlecht geht. Genau hier wird es interessant: Wann geben Sie dem Bettler um die Ecke ein paar Euro und wann nicht? In meinem Buch beschreibe ich unter anderem den Fall eines älteren Mannes, der im vergangenen Jahr vor einem Bankautomaten zusammengebrochen ist. Ein Kunde nach dem anderen stieg über ihn achtlos hinweg, um Geld abzuheben. Es dauerte 20 Minuten, bis jemand Hilfe rief. Das ist natürlich ein krasser Fall. Aber das Gefühl verstärkt sich doch, dass etwas in unserer Gesellschaft ins Rutschen gekommen ist. Das bestätigen übrigens auch viele Rettungssanitäter, die an Unfallstellen immer öfter von Gaffern an ihrer Arbeit behindert werden.

Umgekehrt leiden wir mit einer jungen Fußballmannschaft, die in einer fernen thailändischen Höhle auf ihre Rettung wartet.

Diese Geschichte ist ein gutes Beispiel, weil sie dramaturgisch perfekt funktioniert. Sie haben eine Gruppe von Jugendlichen, die den Alptraum schlechthin erleben: eingeschlossen zu sein in einer Höhle. Die Zeit rennt, das Wetter ist schlecht, die Rettung ist unglaublich kompliziert. Und gleichzeitig können die Kinder aber Nachrichten an die Angehörigen schreiben. Es gibt also persönliche Geschichten, herzzerreißende Briefe. Und alles läuft auf ein Happy End hinaus.

Für das ertrinkende Flüchtlingskind im Mittelmeer dagegen interessieren wir und kaum noch!

Ein Grund dafür ist sicherlich eine gewisse Abstumpfung. Es ist ja nicht lange her, da haben wir sehr wohl Empathie für Flüchtlinge aufgebracht: Im Jahr 2015, als der junge Alan Kurdi tot am Strand lag. Dieses Foto ist ikonisch geworden und hat eine große Spendenwelle ausgelöst. Wir reagieren zwar sehr stark auf solche Bilder, sind bereit zu spenden, aber irgendwann gewöhnen wir uns an sie oder blenden sie aus.

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Ist es wirklich nur die Gewöhnung, die uns nicht mehr in diesem Umfang mit den Flüchtlingskindern mitfühlen lässt?

Es kommt noch etwas hinzu: Angst. Im Fall der Flüchtlingskrise haben viele Menschen offenbar den Eindruck, dass die Regierung die Kontrolle verloren hat. In einer solchen Situation entzieht man seine Empathie. Mit jeder neuen negativen Nachricht über Flüchtlinge wächst die Angst und verdrängt das Mitgefühl.

Ist Empathie immer gut? Ein Gaffer, der das Leid eines Schwerverletzten filmt, muss doch auch über die Fähigkeit zur Einfühlung verfügen. Sonst könnte er doch an dieser Szene gar keinen Reiz empfinden!

Dieser Reiz besteht meiner Ansicht nach nicht im Einfühlen, sondern in Sensationslust. Denn wer einen Schwerverletzten filmt, ohne zu helfen, hält ja die Rettungsmaßnahmen auf. Wäre er wirklich empathisch, müsste er schon in diesem Moment sein Verhalten ändern. Es geht für einen Gaffer also darum, in seinen banalen Alltag ein wenig Abwechslung zu bringen: „Krass, ein Unfall!“

Melanie Mühl und SÜDKURIER-Redakteur Johannes Bruggaier auf der Frankfurter Buchmesse 2018.
Melanie Mühl und SÜDKURIER-Redakteur Johannes Bruggaier auf der Frankfurter Buchmesse 2018. | Bild: Kirsten Vogelsang

Sie verweisen darauf, dass Rettungskräfte von einer starken Zunahme solcher Fälle berichten. Woran liegt das?

Das ist schwer zu sagen. Hier kommt sicherlich viel zusammen. Der Umgangston wird rauer, in den sozialen Medien, auf der politischen Bühne, im Alltag. Ebenso sinkt wohl die Bereitschaft, der Auseinandersetzung mit anderen. Ein einfaches Beispiel: Wenn man früher im Supermarkt anstehen oder an der Bushaltestelle warten musste, beobachtete man Menschen. Man fragte sich vielleicht, was in dem ein oder anderen vorgeht, woher der finstetere Blick kommt, solche Dinge. Heute haben wir unser Smartphone, in das wir uns zurückziehen wie in eine Kapsel. Ich mache das selbst oft ja nicht anders.

In Ihrem Buch beschreiben Sie eine Gruppe von Menschen, die ganz bewusst darauf verzichten, sich in ihrem Spendenverhalten von Empathie leiten zu lassen. Sie nennen sich „Effektive Altruisten“ und folgen einer kühlen Kosten-Nutzen-Rechnung. Im Ergebnis leisten sie mehr Gutes als durch empathisches Handeln. Wie finden Sie das?

Ich bin da hin- und hergerissen. Den Gedanken, Gutes zu quantifizieren, finde ich sehr spannend. Die effektiven Altruisten sagen: Warum soll ich dem Bettler vor meinem Haus einen Euro geben? Wenn ich ihn nach Afrika spende, bewirkt dieser Euro dort viel mehr! Ihre Kritiker werfen ihnen zwar Gefühlskälte vor. Dabei lassen sie aber oft außer Acht, dass diejenigen, die sich ernsthaft als effektive Altruisten engagieren, auch bereit sind, dauerhaft einen bestimmten Prozentsatz ihres Einkommens zu spenden: Sie üben sich ganz bewusst und Konsequent im Verzicht.

Also doch besser keine Empathie?

Nein. Effektive Altruisten sind doch sehr empathisch! Sie handeln nur maximal rational. Ich persönlich finde es sehr schön, sich vom wärmenden Gefühl mitreißen zu lassen, einem anderen Menschen geholfen zu haben. Selbst wenn man mit dieser Hilfe woanders doppelt so viel hätte bewirken können. So fällt es mir doch auch leichter, offen für das Leid in meiner Umgebung zu sein.