Was in unserem politisch aufgeheizten Land zurzeit so alles im Argen liegt, das erklärt uns zurzeit kein Dichter und kein Philosoph, kein Martin Walser und kein Peter Sloterdijk. Die schärfste, treffsicherste Analyse liefert weder ein Nobelpreisträgern noch ein namhafter Leitartikler. Sondern: ein Känguru.
Einem Känguru zu Füßen
Seit zehn Jahren hüpft es durch die Erzählungen des Autors und Kleinkünstlers Marc-Uwe Kling. Erst war es nur wenigen Radiohörern bekannt. Dann standen seine Abenteuer in Bücherschränken von Studenten. Irgendwann liefen sie als Hörspiel in Kinderzimmern, Küchen und Dienstwagen. Und diese Woche taucht es erstmals leibhaftig auf, als Animation auf unseren Kinoleinwänden: „Die Känguru-Chroniken“ verfilmt vom Schweizer Regisseur Dani Levy. Was ist in uns gefahren, dass wir diesem Känguru zu Füßen liegen?
An der Handlung kann es kaum liegen, sie passt in einen Satz: Ein Känguru zieht dreist in die Berliner Wohnung des Autors ein, legt Wert auf die Feststellung, ein Kommunist zu sein, und quatscht ihn fortan mit küchenphilosophischen Betrachtungen zu.
Faszinierendes Gequatsche
Die Faszination der Erzählungen liegt einzig und allein in diesem Gequatsche. Und das sieht wie folgt aus: Die Welt ist voll von fiesen Kapitalisten, Rassisten und Imperialisten. Allein das Känguru weiß Rat und geht als Kommunist mit gutem Beispiel voran. Etwa, indem es die Achtundsechziger beschimpft, sich geregelter Arbeit verweigert und beim Monopoly kostenlose Bahnhöfe einführt. Alles in allem also ziemlich vorlaut und selbstgerecht. Wäre es Herr Schmidt oder Frau Müller – wir würden es hassen. Es ist aber ein Känguru und deshalb dabei irgendwie... tja, was eigentlich? Niedlich? Jedenfalls ungeeignet für Gefühle wie Hass und Abscheu.

Nun ist der Trick, menschliche Handlungen und Meinungen aus tierischer Sicht zu denken, in der Literatur ein alter Hut. Schon im 6. Jahrhundert vor Christus ließ der Dichter Äsop in seinen Fabeln Füchse und Raben um Käsestücke zanken. Die Brüder Grimm zeigten mit den Bremer Stadtmusikanten, wie Solidarität funktioniert. Und an Walt Disneys Micky Maus ließ sich lernen, wie auch kleine Wesen groß rauskommen können.
Das Känguru passt nicht in diese Reihe. Bei Äsop, Grimm und anderen nämlich sind Tiere Platzhalter für menschliche Stereotypen: der Fuchs spielt den Listigen, der Bär den Behäbigen, der Esel den Treuen. Ganz anders bei Marc-Uwe Kling. Sein Känguru ist aus kulturhistorischer Sicht ein unbeschriebenes Blatt. Schon allein geografisch verorten wir es ganz weit weg von uns. Und weder List, Treue noch Boshaftigkeit assoziieren wir mit ihm. Selbst seine Sprunghaftigkeit bringt mit menschlichen Eigenschaften niemand in Verbindung.
Die Neutralität dieses Tiers (in Gestalt eines Pinguins taucht übrigens bald ein weiteres Tier dieser Art auf) dient wie eine makellos reine Projektionsfläche, auf der die menschlichen Charaktereigenschaften unserer Zeit ungefiltert sichtbar werden. Und was wir darin sehen, die typischste aller fürs 21. Jahrhundert typischen Eigenschaften, ist: unsere Scheinheiligkeit.
„Klassische Lose-Lose-Situation“
Im Maulheldentum des Kängurus vereinen sich die verbohrten, aufgeblasenen Ideologen, mit denen wir uns tagtäglich herumzuschlagen haben. All Leute, die von anderen tausendprozentige Moral einfordern, während sie selbst über Leichen gehen. Leute, die nur Schwarz und Weiß kennen, keine halben Sachen gelten lassen. Oder wie das Känguru sagt: „Der Kompromiss ist eine klassische Lose-Lose-Situation.“
Ein furchtbarer Typ also, dieses Känguru. Umso bemerkenswerter, dass wir es trotz allem mögen, seine Selbstbezogenheit, seine Dreistigkeit, seine Bigotterie. Genau darin liegt die beste Botschaft von Marc-Uwe Klings Känguru-Chroniken: Der Mensch ist voller Mängel – und genau deshalb liebenswert.