Noch nie ist die Alphabetisierungsrate so hoch gewesen wie heute. Doch was unseren Umgang mit den Buchstaben betrifft, so ist davon nichts zu erkennen. Lieblos hacken wir sie in Computer und Smartphones: Die Handschrift gilt vielen nur noch als lässliches Übel, manches Schulkind kommt über die vereinfachte Ausgangsschrift nie hinaus.
Früher dagegen. Was haben nicht Briefeschreiber, Buchdrucker und Künstler für einen Aufwand getrieben! Einige besonders schöne Exemplare kunstvoll ausgestalteter Buchstaben sind aktuell im Basler Kunstmuseum zu sehen. Es handelt sich dabei um Ausarbeitungen, die vor allem für Initialien verwendet wurden. Sie zeigen, welchen Stellenwert einmal die Typografie eingenommen hat. Und mit welcher Lust Künstler sich den Formen lateinischer Buchstaben anzunehmen vermochten.
Ein anonymer Meister (15. Jahrhundert) aus den Niederlanden ließ im Jahr 1464 Menschen, Tieren und Fantasiewesen die kühnsten Verrenkungen anstellen, damit man aus ihrer Körperhaltung ein P oder ein X herauslesen konnte.
Wer glaubt, mit den Turnübungen allein sei die Geschichte zum jeweiligen Buchstaben schon auserzählt, irrt. Manche Figuren und Szenen lassen nämlich auch einen inhaltlichen Bezug erahnen. Zum Beispiel der abgeschlagene Kopf im Bild des Buchstabens G: Es dürfte sich dabei um das Haupt des Riesen Goliath handeln.
Außerdem beachtenswert: das kleine Schwein beim Buchstaben N. Es lugt frech unter einem Rock hervor.
Hans Weiditz (1500-1536), deutscher Graphiker des 16. Jahrhunderts, pflegte seine Buchstaben mit turnenden Kindern zu verzieren.
Mal wird miteinander gespielt, mal musiziert, mal reitet man mit Pferdchen mitten hindurch.
Der heutige Leser sucht nach Beziehungen zwischen Bild und Buchstabe (etwa M für Musik). Doch das führt in die Irre: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Schriftzeichen und der Bildsprache, sondern allenfalls einen religiösen Kontext. Kinderfiguren wie diese erinnern nämlich an Putten in barocken Kirchengemäuern. Als engelsgleiche Wesen hauchen sie hier dem unbelebten Buchstaben Leben ein.
Hans Holbein der Jüngere (1497-1543) verbreitete mit seinem Alphabet Angst und Schrecken. Denn für die stimmungsvolle Inszenierung der Buchstaben sorgt im vorliegenden Fall Gevatter Tod.
Man staunt, wer ihm alles nicht gewachsen ist: Päpste und Könige wehren sich vergeblich gegen seinen Zugriff.
Und auch das unschuldige Kind wird erbarmungslos aus seinem Bett gezerrt.
Erst ganz am Ende mit dem Buchstaben Z kommt die Erlösung: Christus als Weltenherrscher, der all die vom Tod geknechteten Wesen bei sich aufnimmt. Das Alphabet als biblisches Lehrstück.
Und auch Holbein konnte Kinder. Im Vergleich zu den kleinen Rackern bei Weiditz aber kommen sie uns hier bemerkenswert flegelhaft vor.
Da wird mal gerungen, mal geschlagen.
Und welche Untersuchung passiert da eigentlich im Hintergrund des Buchstabens L?
Die Kombination aus kindlicher Niedlichkeit, roher Brutalität und vulgärem Witz ist typisch für das ausgehende Mittelalter. Die Erhabenheit der von Engelchen abgeleiteten Putten wird auf diese Weise lustvoll gebrochen.