2018 war ein Sommer der Hitze und der hitzigen Debatten. Ob Politik oder Sport: Ein falsches Wort, eine Abweichung von der Norm, eine nicht erfüllte Erwartung entzündet den Funken, der die Stimmung explodieren lässt.

Kaum ein Thema, das nicht von Aufregung erfasst wird, bei dem die Emotionen kontroverser Parteien nicht hochkochen. Mit steigender Geschwindigkeit werden Rücktritte gefordert. Alles eignet sich zur Sensation.

Unterhaltung oder Wahrheit?

In der Spaßgesellschaft bemisst der von Twitter und Co. Dauerbeschallte, der nichts verpassen will, die Ereignisse nach dem Wert der Unterhaltung und nicht nach dem Wahrheitsgehalt. Wer mag es ihm verdenken, wenn er ob der auf diese Weise abhanden gekommenen Urteilskraft Koch-Shows und kollektive Shitstorms ebenso bedeutend einschätzt wie Demonstrationen gegen die Abholzung uralter Waldbestände oder die kollektive Gewalt und Hetze für und wider deutsche Migrationspolitik. Ist Deutschland noch zu retten vor dieser Massenhysterie?

Auffallend ist, dass die ekstatischen Wellen der Vergangenheit eine andere Güte hatten. Verursachten früher ein LSD-Trip oder ein Rock-Konzert einen zeitweisen Kontrollverlust, herrscht heute ein dauerhaftes Außer-sich-Sein. Deutschland ist im Rausch. Wir haben es nur noch nicht gemerkt. Oder doch?

In Stuttgart zumindest ist man dem Phänomen schon auf der Spur: „Ekstasen sind so alt wie die Menschheit“, sagt Ulrike Groos, Direktorin des Kunstmuseums. Und ebenso lange setzen sich schon Künstler mit dem Phänomen auseinander, das sich durch alle Kulturkreise und Zeiten zieht und dabei kontroverse Bewertungen erhalten hat – vom absoluten Verlangen bis zur totalen Ablehnung. In der Ausstellung „Ekstase“, die Groos gemeinsam mit Anne Vieth und dem freien Berliner Kurator Markus Müller konzipiert hat, zeigen über 230 Werke von der Antike bis heute, wie sich das Hochgefühl, für das Menschen über mentale und physische Grenzen hinaus gehen, um einen anderen Bereich der Wahrnehmung zu erleben, in der Kunst niederschlägt.

Gott des Rauschs

Das reicht vom antiken Kult des Dionysos, dem Gott des Weins und des Rauschs, über religiösen Taumel und Schamanismus, Gefühlswallungen beim Sport und in völliger Erschöpfung gipfelnde Tanz-Ekstasen bis zum Drogen- und Liebesrausch. Die US-Fotografin Eleanor Antin inszeniert in ihrem „Triumph Of Pan“ ein ekstatisches Trinkgelage nach dem traditionellen Vorbild des Bacchanals mit wie im Delirium verbogenen Körpern und erregten Blicken. Lautes Feiern in der Natur und Nacktheit bei Lovis Corinth und Pablo Picasso stehen im Gegensatz zur konservativen Welt, in der Ausnahmezustände zur Bedrohung werden und Parallelen zur Gegenwart aufscheinen.

Vom irdischen Orgasmus

Nachvollziehbar demonstriert die gelungene Schau in einem sakral anmutenden Saal auch die Vorstellung der Verschmelzung von Gott und Mensch, wie sie Gianlorenzo Bernini mit seiner Theresa von Ávila darstellt. Verraten bei ihr Körperhaltung, geschlossene Augen und geöffneter Mund die religiöse Verzückung, ist es bei Charles Lebrun und Jean Benner der „himmelnde Blick“, der mit entrückter Miene die Nähe zum irdischen Orgasmus anzeigt.

Eigene Räume sind der afrobrasilianischen Religion des Candomblé und dem Schamanismus gewidmet. Die spirituelle Aufladung von Kunstwerken trifft hier auf durch psychedelische Pflanzen und rituelle Tänze erzeugte Bewusstseinszustände. Marina Abramovic führt in einer Video-Performance die Trance bis zur völligen Erschöpfung am eigenen Leib herbei. Neben Tanz-Ekstasen ist ein großes Thema für extreme Emotionen der Sport, der aufgrund seiner suggestiven Kraft nicht selten instrumentalisiert wurde.

Andreas Gurskys Großformat „Dortmund 2009“ mit 25.000 Fans auf Europas größter Stehplatztribüne führt als gefürchtete „gelbe Wand“ vor Augen, wie sich gegnerische Torschützen fühlen, wenn ihnen rhythmische Fan-Gesänge der in kollektive Ekstase versetzten BVB-Fans entgegenschallen. Mit Arbeiten wie der „Grünen Fee“ von Albert Maignan und Werken der Moderne zur körperlichen Erfüllung nimmt das Museum bewusstseinserweiternde Wirkung von Drogen und sexuelles Verlangen in den Blick. In der Klang- und Lichtinstallation „Dream House“ von La Monte Young und Marian Zazeela kann sich der Besucher schließlich auch selbst in Trance versetzen.