Die Zukunft hat einen Totalschaden. Aber nicht im Geländewagen selbst zeigt er sich an diesem Abend auf der Bühne des Konstanzer Stadttheaters: Die stählerne Karosserie (Bühne: Franziska Isensee) scheint noch intakt. Nein, es ist vielmehr alles um sie herum, eine aufgeheizte, lebensfeindliche Welt. Als einziger Schutzraum bleibt der SUV mit Klimaanlage, kein Wunder, dass König Ödipus und seine Familie ihn kaum verlassen wollen. Der Mensch, auf ewig dazu verdammt, Auto zu fahren: welche Ironie des Schicksals!
Klassische Stoffe als dystopische Parabeln auf den Klimawandel zu erzählen, ist in Mode gekommen. Oft ist das Ergebnis wenig mehr als eine ästhetisierte Fridays-for-Future-Demonstration. Theater kommt eher selten dabei heraus. Denn Theater bedeutet ja zum Beispiel, eine Tragödie auch als solche zu zeigen: den Menschen also als Gefangenen seines Schicksals zu akzeptieren, statt ihn mit politischen Appellen irgendwie doch noch retten zu wollen.
In Thomas Köcks Stück „Forecast Ödipus“ wird Sophokles‘ antike Herrschergestalt zum Prototypen künftiger Regierungschefs. Statt Konjunkturprogramme und sozialer Wohltaten bleibt diesen nurmehr übrig, den von ihren Vorgängern hinterlassenen Müll wegzubringen. Und obwohl alle wissen, welche Sünden zu dieser Gegenwart geführt haben, tun sie noch immer so, als bedürfte es dazu wissenschaftlicher Expertise.

Genau darin liegt der Clou dieser bemerkenswerten Bearbeitung. Denn bei Sophokles tritt ja nicht nur ein König gegen seine eigene Vorsehung an. Vielmehr handelt dieser Klassiker auch von zwei konkurrierenden Prognoseinstituten: dem Orakel von Delphi und dem Seher Teiresias. Hier der akademische Olymp fernab der Macht, dort der wendige Politikberater vor Ort.
In Konstanz liefern sich die beiden nun ein packendes Expertenduell. Pythia, Priesterin des Orakels (Anne Rohde), vertritt die Klartext-Fraktion. Nicht nur ist der Mensch selbst schuld, zetert sie: Er kann auch den Untergang stoppen, wenn er endlich sein Leben ändert. Teiresias (Michaela Allendorf) erzählt das Gleiche, jedoch aus anderer Perspektive: Der Mensch ist schuld, aber um das System zu ändern, muss er an die Ursachen ran und erst mal in aller Ruhe herausfinden, wer damals König Laios umgebracht hat.
Zwei Experten, zwei Versionen von Wahrheit, bloß ist die eine davon etwas angenehmer als die andere. Es ist das FDP-Modell, in dem uns ein bisschen Innovationsgeist schon vor den Zumutungen des Verzichtens bewahren wird.
Deshalb kann sich König Ödipus (Jasper Diedrichsen) auch darauf einlassen. Für Verzicht nämlich ist sein Volk erkennbar nicht bereit, wenn täglich greise Männer (Lilian Prent und Thomas Fritz Jung) öffentlich das einst von ihnen erschaffene Straßennetz besingen: „Im Hybrid auf der Autobahn, wo wir alle um die Wette fahr‘n!“
König Ödipus
Schon bald führen die Ermittlungen zu ersten Erkenntnissen. Hinter der Kreuzung, wo die Straße einspurig wird, kam es damals zum Königsmord. Und während seine Frau Iokaste (Ruth Macke) ihm diesen Tatort ganz genau beschreibt („Du weißt schon, da wo man immer runterschalten muss!“), schwant Ödipus Böses: War es nicht dort, wo ihm damals dieser arrogante Typ mit seiner S-Klasse entgegenkam? Er hatte wutentbrannt Vollgas gegeben und ihm die Fahrertür eingerammt.

Stück für Stück arbeitet sich der König zur Erkenntnis seiner eigenen Täterschaft vor. Nur Pythia, Priesterin von Delphi, greift sich regelmäßig an den Kopf. Wer damals König Laios ermordet hat: „Was tut‘s denn zur Sache?“ Das Leben ändern wäre angesagt, ein neues Wirtschaftssystem erfinden!
Als endlich die Vergangenheit aufgearbeitet ist, Iokaste sich voller Gram erhängt und der reuige Herrscher sich geblendet hat, sind die Böden noch immer trocken. Betroffen lässt König Ödipus die Tiraden des Orakels über sich ergehen. Herrlich hilflos reckt Jasper Diedrichsen seine ausgerissenen Augäpfel in die Höhe: „Ja, dann geht‘s am Ende also gar nicht so sehr um mich?“
Zu großartigem Theater wird dieser Abend in der Regie von Maike Bouschen nicht, weil er ermahnt und appelliert. Sondern weil er sein Publikum vor sich selbst gruseln lässt. Wenn wir alle nämlich nach ein bisschen Schaudern wieder nach Hause gehen und so weiterleben wie immer, ruft eine erzürnte Iokaste am Schluss: Dann liege es daran, dass wir uns das Schaudern in Wahrheit längst abgewöhnt haben. Der Kapitalismus frisst unsere Gefühle auf. Darin liegt die Tragödie unserer Zeit.
Kommende Vorstellungen: am 29. und 30. April. Weitere Informationen: www.theaterkonstanz.de