Normalerweise fremdelt das Publikum, wenn es im Theater mit ins Stück einbezogen werden soll. Es reagiert peinlich berührt auf Ansprache seitens der Akteure oder bleibt am Rand stehen, selbst wenn es aufgefordert ist, während der Aufführung den Raum erfahrend zu begehen.
Und letzteres ist ja häufig das Ziel in zeitgenössischen, immersiv angelegten Produktionen, in denen die starre Konfrontation von Bühne und Zuschauerraum aufgehoben ist und der gesamte Raum mit Klang und Bild bespielt wird.
Sog der Gruppenbildung
Ein solch immersives Projekt ist auch das Musiktheater „Hold your Breath“, das nun als letzte Premiere der diesjährigen Bregenzer Festspiele seine Uraufführung auf der Werkstattbühne hatte. Das Publikum dort reagierte allerdings ganz anders als normalerweise.
Ein Teil hatte auf nummerierten Sitzen Platz genommen, ein Teil stand um die Spielfläche herum, über der ein riesiger Oktopus schwebte. Während die Sitzenden das Geschehen unbehelligt beobachten konnten, wurden die Stehenden von den Akteuren (Scott Hendricks als The Official, Sam Furness als The Red Leader, Maria Hegele als The Black Leader) in zwei Gruppen geteilt und angeleitet, sich mal hierhin, mal dorthin zu bewegen.
Und sie zogen nicht nur willig mit – nach und nach erhoben sich auch Zuschauer aus der sitzenden Fraktion, um am Geschehen teilzuhaben, ja sogar den Tanzschritten von Hellen Boyko, Petr Nedbal und Romane Ruggiero zu folgen. Was war passiert?
David Pountney zurück in Bregenz
Es war wohl der Sog der Gruppenbildung, mit dem Librettist und Regisseur David Pountney hier geschickt spielt. Der ehemalige Intendant der Bregenzer Festspiele (er leitete sie von 2004 bis 2014), der das Stück zusammen mit der irischen Komponistin Éna Brennan und dem portugiesischen Künstler Hugo Canoilas entwickelt hat, weiß einfach, wie Theater funktioniert. Und um Gruppenbildungen mit ihren identitätsstiftenden, aber auch normierenden und im Extremfall spaltenden Effekten geht es letzten Endes in diesem Stück. Allerdings auf eine sehr spielerische Art und Weise.
Die Pandemie klingt nach
Da wird das Publikum anfangs aufgefordert, Formulare auszufüllen, es bekommt Tablets ausgehändigt, die aber nicht funktionieren und wieder eingesammelt werden, Codes sollen eingegeben und Apps heruntergeladen werden.
Der Rote Führer preist die Eigenheiten der roten Gruppe, die Schwarze Führerin die der schwarzen. Für Individualität ist kein Platz mehr. Die Enkelin, die darüber klagt, ihre Großmutter sei an Einsamkeit gestorben, fällt durch alle Raster.
Covid. Der Begriff fällt an keiner einzigen Stelle. Aber dass Pountney, Brennan und Canoilas ihr Stück während der Pandemie zu entwickeln begannen, hat sich im Ergebnis niedergeschlagen, ohne dass sich das Thema unangenehm in den Vordergrund schieben würde.
Vorbild Henry Purcell
Eigentlich schwebte dem Briten Pountney eine Art zeitgenössische Version von Henry Purcells so genannten Masques vor. Diese „Semi-Opern“ sind im Grunde die immersiven Kunstwerke des 17. Jahrhunderts, eine Mischung aus gesprochenem Drama, Gesang, Tanz – und wenig kohärenter Handlung. I
n Bregenz sind es nun fünf Sänger und Sängerinnen (neben Hendricks, Furness und Hegele noch Idunnu Münch und Shira Patchornik), drei Tänzer und Tänzerinnen sowie vier Musiker und Musikerinnen (Mitglieder des Symphonieorchesters Vorarlberg unter Leitung von Karen Ní Bhroin), die das Geschehen lenken und bestimmen.
Éna Brennans Musik hält sich dabei eher zurück. An Oper erinnert hier eigentlich wenig, eher an installative Soundscapes mit stehenden Raumklängen oder auch an die minimalistische Filmmusik eines Michael Nyman.
Der Krake, das große Unbekannte
Und der Oktopus? Der von Hugo Canoilas erschaffene Riesen-Krake senkt sich, begleitet von erhabenen Klängen, allmählich von der Decke bis zum Boden, wo er schließlich liegen bleibt. Er ist ein Symbol für das Unbekannte, aber auch für das Kreative in einer regulativen Welt.
Und der Mensch reagiert darauf, wie er es stets tut: entweder mit Angst und Ablehnung oder mit Ehrfurcht und Anbetung. In jedem Fall aber mit einer Form der Vereinnahmung. Mit seinem Urmel-Kopf wirkt er ja auch ziemlich kuschelig und bietet zudem Platz für Verstecke.

Am Schluss aber liegen seine Arme abgetrennt vom Körper am Boden. Die Vereinnahmung durch den Menschen hat wieder einmal zu Tod und Zerstörung geführt. Die Führer warnen vor Kontaminierung, zum Handeln ist es jetzt zu spät. Das Publikum wird mit den Worten „Hold your Breath“ (“Halt den Atem an“) und mit einem leisem A-cappella-Abgesang sanft, aber bestimmt aus dem Raum geleitet, hinaus ins Foyer. Erst hier kann es seiner Begeisterung für die gelungene Produktion im Beifall freien Lauf lassen.
Die weitere Aufführung am heutigen Samstag ist bereits ausverkauft