Erfordert es 2021 in Deutschland noch Mut, öffentlich zu sagen, dass man schwul oder lesbisch ist? Dass man sich als trans oder non-binär identifiziert? In Zeiten, in denen es die Ehe für alle gibt, selbst bei der Bundeswehr eine trans Frau als Kommandeurin Karriere machen kann und in jeder zweiten Netflix-Serie queere Figuren auftauchen, können solche Coming-Outs doch kein Problem mehr sein.
Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, wie allein ein Blick auf die Kriminalstatistik zeigt: Die Zahl gewalttätiger Übergriffe gegen Menschen der LGBTQI-Community steigt hierzulande Jahr für Jahr, mindestens 350 trans Menschen wurden weltweit 2020 sogar ermordet.
Gemessen daran haben die 185 Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich vergangene Woche im Magazin der Süddeutschen Zeitung dazu bekannt haben, lesbisch, schwul, bisexuell, nicht-binär oder trans (im Folgenden hier unter dem Begriff „queer“ zusammengefasst) zu sein, ein vergleichsweise kleines Anliegen. Sie wollen bloß sichtbar sein als die, die sie eben sind, erklären sie in einem Manifest unter dem Titel #ActOut.
Beifall und Kritik
Dafür gab es viel unterstützenden Beifall, aber auch kritische Stimmen: im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa tat die leitende Redakteurin ihr Befremden darüber kund, dass die Beteiligten doch nichts riskieren würden – und zog als Vergleich die Frauen heran, die 1971 im Stern ihre Abtreibungen mit einer ähnlichen Aktion öffentlich machten.
Das Mittel des Massen-Coming-Outs ist im Ringen um gesellschaftliche Veränderung allerdings ein altbewährtes (für eine weitere Stern-Titelstory von 1978 mit dem Titel „Wir sind schwul“ taten sich sogar 682 Männer zusammen), und natürlich steht auch bei #ActOut für die Beteiligten einiges auf dem Spiel. Mindestens nämlich ihre Karriere.

Denn auch wenn der Kulturbranche und dem Showgeschäft der Ruf vorauseilt, besonders tolerant zu sein, ist ein offener Umgang mit sexueller Orientierung und Gender-Identität gerade in der Schauspielerei eine heikle Angelegenheit, wie etliche Beteiligte dem SZ-Magazin im Interview anvertrauen. Manager, die dazu raten, besser nicht gemeinsam mit der Lebensgefährtin auf dem roten Teppich zu erscheinen, Regisseure, die homosexuelle Darsteller nicht besetzen, weil die „zu schwul“ wirken könnten – solche Erfahrungen sorgen oft dafür, dass queere Schauspielerinnen und Schauspieler bestenfalls hinter den Kulissen dazu stehen, wer sie sind.
Begleitung nicht erwünscht
Viele der an #ActOut Beteiligten können auf gut laufende Karrieren verweisen. Ulrich Matthes ist genauso dabei wie Mavie Hörbiger oder die im „Tatort“ ermittelnden Karin Hanczewski und Mark Waschke. Doch gelingen konnte ihnen das nur, weil sie darauf verzichteten, was für heterosexuelle Kolleginnen und Kollegen selbstverständlich ist: den oder die Liebste als Begleitung mit zur Premiere bringen oder mal im Interview eine Anekdote aus dem Privatleben zum Besten geben.
Wer seinen beruflichen Werdegang gerade erst beginnt, versteckt die eigene Identität lieber, um sich keine Chancen zu verbauen. Wer bereits Erfolg hat, schweigt weiter, um eben jenen nicht zu gefährden. Aus dieser Spirale lässt sich schwer ausbrechen.
Wer es doch tut, muss die Konsequenzen tragen. Maren Kroymann kann berichten, dass sie nach ihrem Coming-Out 20 Jahre lang im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine Rollen mehr bekam, in denen sie mit einem Mann liiert oder Mutter sein durfte. Und Ulrike Folkerts, die erstmals 1999 über ihr Lesbischsein sprach, stand seither jenseits ihrer „Tatort“-Paraderolle für nicht einmal 20 weitere TV-Produktionen vor der Kamera. Klaus J. Behrendt – ebenfalls „Tatort“-Star, aber heterosexuell – kommt im gleichen Zeitraum auf etwa doppelt so viele.
Dass es Mut braucht, alles Versteckspiel sein zu lassen und zu sich selbst zu stehen, zeigt sich auch daran, dass längst nicht alle queeren Schauspielerinnen und Schauspieler bei #ActOut mitmachen. Die richtig prominenten Namen, denen Produzenten die Serien-Hauptrollen und Mainstream-Filme anvertrauen, fehlen bei der Aktion.
Da herrschen in der Filmbranche kaum andere Zustände als im Profifußball: In der ersten Liga geht es um so große Summen und Erfolgserwartungen, dass sich niemand aus der Deckung traut. Stets in der diffusen Sorge, das Publikum würde ein Coming-Out nicht mittragen und lieber ausschalten, wenn einer der Kicker privat gerne Männer küsst. Oder eben der nette junge Herr, der auf der Leinwand immer mit hübschen Frauen flirtet, im wahren Leben einen Ehemann hat.
Aber ist das wirklich so? Vermutlich eher nicht, wie ein Blick nach Hollywood nahelegt. Dort sind eine ganze Reihe Schauspielerinnen und Schauspieler geoutet und trotzdem weiterhin erfolgreich, nicht nur die alte Garde wie Jodie Foster und Ian McKellen, sondern auch angesagte Stars wie Sarah Paulson, Billy Porter, Laverne Cox oder Jim Parsons.
Was hat Jannik Schümann zu erwarten?
Unter diesem Gesichtspunkt wird spannend sein, wie die deutsche Branche speziell mit dem Coming-Out von Jannik Schümann umgeht. Wenn der bei Teenies beliebte Jungstar auch weiterhin heterosexuelle Hauptrollen in Produktionen wie „Dem Horizont so nah“ spielen darf, wäre viel erreicht.
Genau das ist eine der Forderungen des #ActOut-Manifests: Wir wollen offen dazu stehen dürfen, wer wir sind – und trotzdem Rollen spielen, die ganz anders sind als wir. Nur weil jemand in der Realität Sex mit Männern hat, heißt das nicht, dass er vor der Kamera nicht mit Frauen schlafen kann. Genauso wie man – das weiß auch das Publikum – nicht gemordet haben muss, um eine Mörderin zu spielen.
Was übrigens kein Widerspruch ist zu anderen dieser Tage geführten Diskussionen darüber, ob beispielsweise queere Rollen auch nur von ebensolchen Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert werden sollen, damit die überhaupt Job-Chancen bekommen. Denn das eine bedingt das andere: Sobald gewisse Gruppen bei der Besetzung nicht mehr benachteiligt werden, müssen auch die heterosexuellen Kolleginnen und Kollegen keine Angst haben, von der einen oder anderen queeren Rolle ausgeschlossen zu werden.
Ohnehin wünschen sich die an #ActOut Beteiligten auch, dass allgemein die in Film und Fernsehen, aber auch am Theater erzählten Geschichten endlich diverser werden. Viel zu oft, beklagen sie, wird bloß der heterosexuelle, weiße Mittelstand abgebildet, wo in Wahrheit die deutsche Gesellschaft längt vielfältiger aussieht.
Wie solche Veränderungen zu erreichen sind, ob durch Quoten, Selbstverpflichtungen oder schlichtes Umdenken, gilt es zu diskutieren. Aber ein Schritt hin zu mehr Sichtbarkeit ist dank der 185 Beteiligten und ihrem, wie sie es nennen, „solidarischen Akt über die Grenzen der Branche hinaus“ getan. Er könnte bedeuten, dass andere in ähnlicher Situation tatsächlich bald keinen Mut mehr benötigen.