Die Deutschen und ihre Autobahnen – das ist vielleicht keine Liebesgeschichte, aber doch eine innige Beziehung. Auf 13.000 Kilometern Länge zerschneiden sie Natur, Landschaft und Städte und symbolisieren für viele doch auch ein Stück Freiheit: Sie sind Orte, an denen sich ein ordnungsliebendes Volk ganz ohne Tempolimit ein bisschen austoben und über die es fast jeden Winkel des Landes erreichen kann. Dieser besonderen Beziehung geht der Berliner Fotograf Jörg Brüggemann in der Ausstellung „wie lange noch“ auf den Grund, die in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen zu sehen ist.
Der 1979 geborene Brüggemann ist vier Jahre lang durch Deutschland gereist, hat sowohl monumentale als auch anrührende Bilder eingefangen: wuchtige Pfeiler einer Autobahnbrücke oder aber ein Grab direkt neben der Fahrbahn. Viele seiner Fotos wirken makellos, fast wie arrangiert oder gar perfekt gezeichnet.

Der Asphalt kommt häufig in reinem Hellgrau bis Anthrazit daher, die Natur scheint sich ihres Schicksals gefügt und in den Hintergrund zurückgezogen zu haben. Selbst das einzige Bild, auf dem sich der Verkehr staut, wirkt wie komponiert: Einzeln oder in Grüppchen stehen die Menschen neben ihren Wagen in der brav geformten Rettungsgasse auf der A2 und werfen lange Schatten im hellen Abendlicht. Sie sehen aus wie Miniaturfiguren in einer Modelleisenbahnwelt.

Der Schein trüge jedoch, betont Thomas Schirmböck, Leiter des Raums für Fotografie Zephyr und Kurator der Ausstellung. „Da ist nichts arrangiert oder ins Bild gesetzt.“ Fast alle Aufnahmen seien mehr oder weniger beiläufig bei Brüggemanns Fahrten entstanden.
Schneisen aus Grau
Der Blick des Fotografen auf die Deutschen und ihre Straßen ist einfühlsam, fast nostalgisch. Den Besuchern dürfte beim Betrachten der Fotos klar werden, dass sie sich an diese Schneisen aus Grau gewöhnt haben, fast wirken sie wie integrale Bestandteile der Landschaft.

Jörg Brüggemann spielt mit dem Titel „wie lange noch“ jedoch darauf an, dass die Autobahn in ihrer jetzigen Form vielleicht schon bald der Vergangenheit angehören könnte – weil autonom fahrende Autos, Elektro-Mobilität oder ganz neue Formen der Fortbewegung dem Verbrennungsmotor Konkurrenz machen. Gleichwohl wirkt diese Prognose etwas gewagt, denn die Deutschen sind dem Auto schon sehr lange sehr treu geblieben. Schon das in der Politik diskutierte Tempolimit käme für viele einem Kulturbruch gleich.
In der Ausstellung sprechen die Bilder für sich, Erläuterungen oder genaue Aufnahmeorte sucht man vergeblich. Unter jedem Foto sorgt nur eine Buchstaben-Zahlen-Kombination auf dem Boden für eine grobe Verortung: A5, A8, A73. Man habe sich bewusst dafür entschieden, die Informationen absolut zu reduzieren, erklärt Kurator Schirmböck. „Die einzelnen Aufnahmen sind Stellvertreter für das Gesamtphänomen.“

Wer etwas mehr Hintergrund braucht, dem sei das „Handbuch“ am Eingang zur Ausstellung empfohlen: Dort lässt sich nachlesen, welchem System die Nummerierung der Autobahnen folgt und dass der Verein HaFraBa (Hamburg-Frankfurt-Basel) ab 1926 die erste „Autostraße“ quer durch Deutschland plante. Die Nationalsozialisten stellten danach bis 1943 fast 4000 Kilometer Autobahn fertig. Dass Adolf Hitler sich als ihr „Erfinder“ feiern ließ, sind dem Handbuch zufolge aber „fake news“: Die Pioniere waren vielmehr die Mitglieder der HaFraBa.

Eingerahmt werden die Fotos von Aufnahmen Brüggemanns aus Südamerika: Bilder von einer Busreise über den Kontinent und von sozialen Protesten in Chile 2019. Auf ihnen ist das pralle Leben zu sehen – es bildet einen Gegensatz zu den ruhigen Landschaftsaufnahmen aus Deutschland. Die Nüchternheit, Ästhetik und Leere seiner Autobahn-Fotos wirken gerade in diesem Kontrast manchmal befremdlich und ein wenig künstlich.

Doch Brüggemann hat auch sehr beeindruckende Fotos gemacht und berührende Szenen eingefangen. So schaut der Betrachter etwa durch einen Nadelwald einen steilen Abhang hinunter auf das helle Grau der A7. Kleinformatiger, aber auf gewisse Weise spektakulär ist auch eine Aufnahme von der A111 irgendwo in Sichtweite des Berliner Flughafens Tegel. Am Rand auf einer kleinen Mauer sitzt dort ein älterer Mann und schaut versonnen auf die Autobahn und ihren Verkehr – so wie andere Menschen einen ruhigen Fluss oder ein tiefes Tal betrachten. Eine Aufnahme, die so wohl nur in Deutschland entstehen kann.
Die Fotoausstellung „wie lange noch“ ist bis zum 6. Januar 2021 im Zephyr, Raum für Fotografie, im Museum Weltkulturen der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim (D5) zu sehen. Öffnungszeiten dienstags bis sonntags sowie an Feiertagen 11 bis 18 Uhr. Regulärer Eintritt: 10,50 Euro. Weitere Informationen: www.zephyr-mannheim.com