Olaf Neumann

Frau Batiashvili, wie kommen Sie in diesen unruhigen Zeiten zur Ruhe?

Seit Ausbruch des Krieges bin ich noch nicht zur Ruhe gekommen, weil dieser Stress mich sehr belastet. Meine Verbindung zur Ukraine geht zurück in meine Kindheit. 1989 habe ich an einem Wettbewerb in Odessa teilgenommen. Seit der Annexion der Krim versuche ich aktiv, meine Solidarität mit der Ukraine auszudrücken und die Wahrnehmung in der Gesellschaft zu schärfen. Ich habe ein paar Menschen erreicht, aber es war ein einsamer Kampf.

Sie nannten Putin lange vor dem Ukraine-Überfall einen Kriegsverbrecher.

2008 gab es bereits den russischen Einmarsch in Georgien. Wir hatten das Glück, dass der Krieg nur fünf Tage dauerte und der Schaden nicht so immens war wie in der Ukraine. Wir mussten Putin einen Teil unseres Landes opfern. Mit dieser Destabilisierung hatte er sein Ziel erreicht.

Die Ukraine ist aufgrund ihrer Größe ein noch wichtigeres Land als Georgien für ihn. Er bestraft sie, weil sie im Februar 2014 eine heldenhafte Revolution gegen Wiktor Janukovytsch entfacht hat. Eine Million Menschen standen mitten im Winter in den Straßen und auf dem Maidan und wollten nicht mehr nach Hause gehen. Nach viel Blutvergießen ist es ihnen gelungen, sich von diesem System zu befreien. Heute bestraft Putin die Ukrainer immer noch. Wer die Macht hat, in solch einem großen Land wie Russland alles selbst zu entscheiden, muss zwangsläufig verrückt werden und solche Taten begehen.

Warum hat es nach dem Überfall Russlands auf Georgien, der Krim-Annexion und der Bombardierung Syriens keine flächendeckenden Proteste gegeben?

Mit dieser Frage lebe ich seit Jahren. Jetzt wachen die Leute endlich auf und protestieren, aber eigentlich ist es schon zu spät. Seine Truppenaktivitäten in den letzten zwei Monaten haben wir nur zur Hälfte wahrgenommen. Uns war nicht bewusst, zu welchen Taten dieser Mensch fähig ist. Die ganze Gesellschaft – die Politiker, die Geschäftsleute, die Sportler, die Musikwelt – hat dafür gesorgt, dass Putin so mächtig geworden ist, weil sie zu sehr mit ihm vernetzt war.

Die Ukraine schützt gerade unsere Werte und muss auch für unsere Fehler büßen. Wir haben diesem tollen Land nicht rechtzeitig die Chance gegeben, Teil unserer großen europäischen Familie zu sein. Frau Merkel hat das Thema immer verschoben, weil sie auch Angst vor Putin hatte.

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Sein „Brudervolk“ in der Ukraine scheint Putin nicht so gut zu kennen wie geglaubt. Wir sehen, wie die Ukrainer sich auch für unsere Freiheit opfern.

Das ist für Putin eine Überraschung. Er hatte gehofft, dass er innerhalb von 24 Stunden das Land einnimmt und die Ukraine kapituliert. Aber wahrscheinlich hat er genug militärische Reserven, um das Land außer Kontrolle zu bringen. Momentan sind wir in der Situation, dass wir die Ukraine opfern, wenn wir nicht eingreifen. Sie wird es aus eigener Kraft nicht schaffen, die russischen Kolonnen zu eliminieren. W

ir haben uns womöglich mit diesem Gedanken schon abgefunden, weil wir einen Weltkrieg unbedingt vermeiden wollen. Ich frage mich: Ist jemand in einem psychischen Zustand wie Putin, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Welt zu terrorisieren, fähig, trotz allem den roten Knopf zu drücken? Es gibt die Regel, wenn du es nicht machst, mache ich es auch nicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob Putin sich noch an irgendetwas hält. Dieser Mann hat entschieden, den Weg bis zum Ende zu gehen. Weil er weiß, dass er in jedem Fall ein sehr großes Problem hat. Er wird mit Sicherheit vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt werden.

Kann sein engster Kreis ihn stoppen?

Das wäre die beste Lösung. Aber auch das Volk hat eine Stimme. Ob die Menschen in Russland überhaupt bereit sind, gemeinsam diesen Mut aufzubringen trotz drohender Festnahme, weiß ich nicht. Aber wenn sie es nicht tun, endet der Terror nie.

Der letzte Volksaufstand in Russland vor über hundert Jahren wurde von Lenin angeführt. Seitdem haben sie dort dieses undemokratische System, bei dem Anführer bis ans Ende ihres Lebens im Amt bleiben können. Die Russen wissen gar nicht, wie ein Umbruch aussieht, außer dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der gegen den Willen des Volkes geschah. Deshalb frage ich mich, ob das Volk jetzt bereit ist für Veränderung.

Das Volk wird ja belogen. Russische Staatsmedien stellen den Krieg gegen die Ukraine als Befreiungsschlag gegen ein von „Faschisten“ gesteuertes Regime dar.

Das Problem ist, dass die Menschen in Russland erfolgreich manipuliert werden. Ich erlebe das täglich, denn ich bin sehr aktiv in den sozialen Medien. Man muss die Leute aufklären. Momentan sind sie leider von allen unabhängigen Informationsquellen abgeschnitten, aber ich habe generell Vertrauen in die junge Generation. Ich beobachte hier und auch in Georgien, dass Kinder heutzutage viel mehr wissen als es früher der Fall war. Junge Menschen sind viel wachsamer und beschützen viel mehr die Menschenrechte.

Sie treten schon seit 2008 nicht mehr in Russland auf. Gibt es dort noch eine unabhängige Konzertszene?

Höchstwahrscheinlich nicht. Sogar in Georgien läuft es noch nach dem alten sowjetischen System. Ich glaube, dass es für viele russische Musiker wahnsinnig schwer ist, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Entweder sie machen mit – oder sie machen gar nichts. Dafür habe ich keine Lösung.

Haben russische Künstler regelrecht Angst davor, sich von Putin loszusagen, weil er sich an ihnen rächen könnte?

Ich verstehe nicht, warum diejenigen, die im Westen leben, Angst vor ihm haben. Wenn ich das Glück habe, im freien Teil Europas zu studieren, zu leben und zu arbeiten, dann muss ich auch zu diesen Werten stehen. Egal woher ich komme. Ich kann nicht hier eine und dort eine andere Person spielen. Schauen Sie, wie zum Beispiel der Dirigent Kirill Petrenko reagiert, der in seinem europäischen Leben verstanden hat, was Freiheit ist. Wir müssen versuchen, Menschen, die nicht dieses Gefühl der Freiheit haben, mit ins Boot zu ziehen.

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Müssen Künstler in Zukunft genauer hinschauen, für wen sie auftreten?

Ich war immer so. Natürlich sollte es uns interessieren, für wen wir spielen oder von wem wir uns sponsern lassen. Die Ausrede, Musik sei nicht politisch, hat nichts damit zu tun. Es geht um Haltung. Man muss als Künstler beispielhaft humanistische Werte leben.

Wann hat Kultur eine wirkungsvolle Veränderungskraft?

Künstler haben nicht die Kraft, politische Entscheidungen zu verändern, aber wir spiegeln die Gesellschaft, eine bestimmte Situation und die Gefühle der Menschen wider. Man muss mit seiner Kunst die Wahrheit erzählen. Wenn ich auf der ganzen Welt vor Menschen spiele, dann möchte ich auch ihre Kultur und ihre Frustrationen verstehen.

Können Sie als Georgierin nachvollziehen, dass so viele Ukrainer bereit sind, ihr Leben für die Freiheit zu geben?

Ja, weil die Georgier genauso sind! In Georgien ist der Antrieb für die Freiheit sehr viel größer als in einem Land, das seit 75 Jahren frei ist. In Deutschland ist Freiheit selbstverständlich.

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Was wünschen Sie sich von der deutschen Politik?

Unsere Außenministerin ist zwar noch sehr jung, aber sie hat eine sehr gute Einstellung zur Ukraine. Ich erwarte, dass gerade Europa gegen solch einen Tyrannen wie Putin kämpft, weil Geschichte sich gerade wiederholt.

Welche Musik spendet Ihnen jetzt Trost?

Ich höre und spiele viel Bach, wenn es in der Welt so schlecht zugeht. Das ist fast wie Bibellesen. Bachs Musik zeigt auf, dass wir Menschen sehr weit weg vom Perfekten sind und viele Sünden begangen haben. Sie ist zeitlos und hat eine fast übermenschliche Kraft.