Gedichte reißen schon lange niemanden mehr vom Hocker, der Gottesglauben befindet sich im Sinkflug, derweil eskalieren Grabenkämpfe um moralisch angemessene Sprechweisen. Das eine habe doch mit dem anderen nichts zu tun? Gedichte und Religion, Glauben und politische Korrektheit, all das seien doch völlig verschiedene Angelegenheiten? Wenn wir uns da nicht mal irren.
Der deutsch-iranische Publizist Navid Kermani (54) ist das, was Politiker gerne als „Brückenbauer zwischen den Kulturen“ beschreiben. Ein Intellektueller mit fester Verwurzelung in der deutschen Geistesgeschichte von Herder bis Hegel, zugleich aber das Gesicht eines aufgeklärten, dialogbereiten Islams.
Jeder kann mitreden
Wenn Kermani „religiösen Analphabetismus“ beklagt, klingt das weder nach naiver Kirchentagsfrömmelei, noch droht der Dschihad. Es geht vielmehr um die Wiederherstellung einer Diskursfähigkeit: Wozu wollen wir leben? Auf welchen Sinn dürfen wir hoffen? Und was können wir von einander lernen?
Man muss keine hohe Bildung erwerben, über keine lange Erfahrung verfügen, um mitreden zu können. Im Gegenteil verstellt Vorprägung nicht selten den Blick aufs Wesentliche. Vielleicht deshalb wählt Kermani in seinem neuen Buch über Fragen nach Gott (“Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“, Hanser- Verlag) eine ungewöhnliche Perspektive: Ein Autor antwortet auf Fragen der zwölfjährigen Tochter. Er bemüht sich um kindgerechtes Sprechen, begegnet ihr aber in der Sache auf Augenhöhe.
Knackpunkte der Religiosität
Und so kommen die beiden früh zu den Knackpunkten neuzeitlicher Religiosität. So alte Texte, so falsche Thesen! Die Wissenschaft, das weiß schon die Tochter, hat längst herausgefunden, dass Adam und Eva keineswegs unsere Ahnen waren und der Berg Ararat eine Arche Noah wohl nie gesehen hat.
Exegese und Interpretation, so lauten die weithin bekannten Zauberwörter, mit denen dieser Widerspruch von biblischer und naturwissenschaftlicher Wahrheit aufgelöst werden soll. Doch der Vater setzt den Hebel noch tiefer an als im bloßen Deuten von Gleichnissen: nämlich im verkümmerten Sprachverständnis unserer Zeit, das im geschriebenen wie gesprochenen Wort nichts anderes mehr zu erkennen vermag als ein technisches Instrument zur Übermittlung, Verarbeitung und Verwaltung von Informationen.
„Nimm das Wort angeben: Ich gebe meine Personalien an, das heißt, ich teile mein Geburtsdatum und meinen Wohnort mit, oder ich gebe mit Toren an, die ich beim Fußball geschossen habe, das heißt, ich protze ganz schön herum. Ein und dasselbe Wort! Ich kann aber auch beim Tennis angeben, dann hießt es nur, dass ich die Angabe mache.“
Im Wort, erklärt der Vater, zeigt sich nicht nur die Vielfalt menschlichen Verstehens, sondern auch der Wandel der eigenen Persönlichkeit. Ein und derselbe Roman kann von sich plötzlich ein völlig anderes Bild offenbaren, sobald man ihn nur ein zweites oder drittes Mal liest!
Das anzuerkennen, bedeutet, Dichtung zu verstehen. Ein Text, der für sich universale Gültigkeit in Anspruch nimmt, muss sich an ein Publikum richten, das zu diesem Verständnis noch in der Lage ist. „Vor zweitausendsechshundert Jahren hätte niemand etwas mit dem Wort Urknall anfangen können“, erklärt der Vater.
„Hingegen so ein herrlicher biblischer Satz wie ‚Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.‘ oder noch kürzer im Koran, wo Gott sagt ‚Sei! Und es ist‘ – einen solchen Satz konnte ein Bauer in Judäa in Beziehung zu seiner Welt setzen, und er wird noch einem Astrophysiker in einer zukünftigen Marskolonie etwas sagen.“
Dass dem so ist, liegt an der Magie des Unendlichen. Trotz allen Erkenntnisgewinns ist der Mensch nämlich bislang weder zur kleinsten Materie noch zu den Grenzen des Alls jemals vorgedrungen. Und weil auch Wissenschaft nur menschlich ist, werden ihm die übermenschlichen Bereiche des Mikro- und Makrokosmos auch künftig verborgen bleiben.
Grenzen der Sprache
Mit einer endlichen, funktionalen Sprache, wie sie notwendig ist, um etwa Verkehrsvorschriften zu definieren oder Alltagsangelegenheiten zu regeln, lässt sich Unendliches nicht erfassen. Nur „im Gedicht oder überhaupt im Reich der Kunst herrscht ebenjene Freiheit, die wir uns im Leben nicht erlauben können, weil sie hier die Freiheit anderer Menschen einschränkt“. Auf der Straße gilt: „Du musst bei Rot stehenbleiben, Punkt.“ Bei einem Gedicht dagegen „gibt es diesen Punkt nie“.
Man muss Kermani nicht auf dem Weg in den Gottesglauben folgen, um die enorme Bedeutung dieser Sprachkritik nachzuvollziehen. Glaube, schreibt er, setze immer auch die Freiheit voraus, nicht glauben zu müssen. Beides jedoch, das Glauben wie das bewusste Nichtglauben, gelingt nur mit religiösem Wissen.

Eine Gesellschaft, die verzweifelt versucht, mit einer endlichen, normierten Sprache die Widersprüche des Lebens in Wohlgefallen aufzulösen, will den unsichtbaren Elefanten im Raum nicht wahrhaben. Der persische Mystiker Rumi erzählte einst davon, wie ein solches Tier ein Dorf von Blinden aufsuchte. Die Einwohner hätten zwar sehr wohl schon bald bemerkt, dass da etwas ist. Aber was?
„Das muss eine Schlange sein!“, rief einer, der den Rüssel ertastete. „Nein, ein Baumstamm“, sagte ein Zweiter, der an einem Bein stand. „Es bewegt sich schnell hin und her!“, rief der Dritte und meinte den Schwanz.
Ob wir den Elefanten Gott nennen, Metaphysik oder schlicht Unendlichkeit, das überlässt Kermani seinem Leser. Indem er aber jeweils islamische, christliche oder jüdische Spielarten von Mythen wie etwa der Erschaffung der Welt miteinander vergleicht, zeigt er, dass es sich mit den großen Weltreligionen verhält wie mit den Annäherungen der blinden Dorfbewohner an den unbekannten Besucher. Frappierend häufig liegt das Verbindende näher als das Trennende, die Differenz ergibt sich allein aus der Perspektive.
Das Christentum als Wellness-Religion?
Viel Kenntnisreiches und Erhellendes ist in diesem Buch zu erfahren, nicht zuletzt über die fatale Zähmung insbesondere der christlichen Glaubensgrundlagen zu einer Wellness-Religion. Allein ein Quellenverzeichnis vermisst man gelegentlich: Ist der Anteil gläubiger Menschen unter Naturwissenschaftlern wirklich höher als in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen?
Aufschlussreich ist in jedem Fall die Relativierung von Gewissheiten aller Couleur, wie sie in unserer Zeit durch die kühlen Weiten der digitalen Nichträume hallen. Ohne Zweifel, sagt Kermani, ist der Glauben nicht zu haben. Doch ebenso wahr ist: Wer zweifelt, der denkt.