Als Lutz Berners vor einigen Jahren durch die Straßen Shanghais schlenderte, fiel ihm ein Bettler am Straßenrand auf. Der Wahl-Friedrichshafener kramte aus seiner Tasche ein paar Scheine hervor, um sie dem Mann zuzustecken. Dieser winkte aber freundlich ab und hielt ihm stattdessen sein Handy entgegen. Almosen bitte nur noch per Barcode-Scan, sollte die Geste heißen.
Einige Zeit später passierte dem Inhaber einer Unternehmensberatung das Gleiche noch einmal. Dieses Mal verschmähte ein Straßenmusiker in London seine in bar überreichte Spende und verwies stattdessen auf sein Smartphone mit Einzahl-Funktion. „Damals ist mir klargeworden, dass wir in Deutschland beim bargeldlosen Zahlen ziemlich hinterher sind“, sagt Berners.

Die Welt wird unbar, hierzulande aber regiert das Bargeld. Während in Deutschland noch fast 60 Prozent der Zahlungen mit Bargeld abgewickelt werden, liegt der Anteil in den Niederlanden und Finnland nur noch bei rund 20 Prozent. Und in der benachbarten Schweiz bauen Banken Geldautomaten ab. Dort hat sich die Bezahl-App Twint zum Alleskönner im täglichen Leben entwickelt. Die Eidgenossen bezahlen damit das Ticket für die Parkuhr oder überweisen sich gegenseitig Geld.
Wer besichtigen will, wie das Bezahlen der Zukunft wirklich aussieht, sollte eine Reise nach Peking oder Shanghai buchen. Allenfalls in Nischen spielten Scheine und Münzen in den Metropolen Chinas noch eine Rolle, sagt Berners. Sogar Kreditkarten seien selten zu sehen. Seit 15 Jahren bereist er das Land regelmäßig, um seine Familie zu besuchen oder Kunden aus der Finanz- oder Automobilbranche zu beraten. Seit etwa einem halben Jahrzehnt sei Bargeld weitgehend aus dem öffentlichen Leben verschwunden, schätzt er.
Generalschlüssel zur dinglichen Welt
Chinas Alternative zu abgewetzten Münzen und speckigen Schein-Bündeln heißen Wechat und Alipay – sogenannte Super-Apps, mit denen die Chinesen ihr ganzes Leben durchorganisieren – vom Behördengang und dem Einkauf auf dem Wochenmarkt über den Besuch bei Friseur, Restaurant oder Kino bis zur Partnersuche. Die Handy-Apps haben sich zu einer Art digitalem Generalschlüssel zur dinglichen Welt gemausert.
Der entscheidende Faktor dabei ist eine integrierte Bezahlfunktion, die von nahezu allen Anbietern von Waren und Dienstleistungen in China akzeptiert wird, sogar von Bettlern, Straßenhändlern und in Garküchen. „Fast jeder Chinese zwischen zwölf und 75 Jahren bezahlt mit einer dieser Super-Apps“, sagt Berners. Ihre Durchdringung bei Handynutzern liege bei nahe 100 Prozent.
Die Deutschen tun sich mit derlei Digital-Technologie noch schwer. Vielmehr zieht die Nachfrage nach Banknoten in Deutschland immer stärker an. Allein 2023 gab die Bundesbank neue Scheine im Wert von mehr als 920 Milliarden Euro aus. Das Horten von Bargeld hat hierzulande einen Höchststand erreicht.

Über die innige Beziehung der Deutschen zu ihrem Bargeld ist viel spekuliert und sogar geforscht worden. Die Erklärungen reichen von der prägenden Erfahrung der Hyperinflation der 1920er-Jahre, die im gesellschaftlichen Gedächtnis Verlustängste tief verwurzelt hätten, über eine alternde Gesellschaft, die nicht Schritt halte mit digitalen Innovationen bis hin zu Datenschutz, Freiheitsliebe und Selbstbestimmtheit.
Möglich auch, dass so mancher sparsame Deutsche einfach eine Abneigung gegenüber dem unkontrollierten Geldausgeben hat, das durch unbare Zahlmethoden Kritikern zufolge einfacher wird. Immerhin bemerkte schon Wilhelm Busch: „Mit dem Bezahlen wird man das meiste Geld los.“
Der Trend geht zu Karte und Handy
Trotzdem ist auch hierzulande klar erkennbar, dass sich die eingefleischten Verfechter der Penunse auf dem Rückzug befinden. Beispiele wie jener Ravensburger Gastronom, der barzahlenden Gästen fünf Prozent Rabatt auf Schweinsbraten und Bier gewährt, weil er es Leid ist, hohe Gebühren für die Bereitstellung seines Kartenlesegeräts abzuführen, sind die Ausnahme.
Der Trend in Restaurants und Geschäften geht zum Unbaren. Ist es nicht ein Vorteil, Scheine und Münzen nicht mehr vorhalten zu müssen? Geht das kontaktlose Bezahlen per Karte oder Handy nicht viel schneller? Ist es nicht hygienischer? Und wird dem schlitzohrigen Mitarbeiter so nicht auch der berüchtigte Griff in die Kasse verwehrt?
Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Einflussfaktoren, die selbst die bargeldverliebten Deutschen zum Umdenken bringen. In einer aktuellen Studie zur Zukunft des Bezahlens in Deutschland identifiziert die Bundesbank „Bequemlichkeit und Komfort“ als „das zentrale Motiv bei der Wahl eines Zahlungsmittels“.
Die entscheidende Frage sei, womit der Kunde am „schnellsten, einfachsten und am bequemsten bezahlen“ könne, schreiben die Autoren mit Blick auf eine von digitalen Bezahlvorgängen geprägte Welt. In alltäglichen Entscheidungen überwöge dies selbst Bedenken wegen des Datenschutzes. Dirk Schrade, Zahlungsverkehrs-Experte bei der Bundesbank sagt, es werde digital bezahlt, weil es leicht gehe.
Das Ende des Bezahlschmerzes
Einen Schub haben dem unbaren Geldtransfer sicher aber auch die technischen Möglichkeiten des kontaktlosen Zahlens verliehen. Und dessen Integration ins Smartphone. Seit es möglich ist, sein Handy quasi als digitale Geldbörse umzufunktionieren, kommen immer mehr Nutzer auf den Trichter, dass es an der Supermarkt-Kasse so einfach einfacher ist.
Mindestens genauso wichtig ist der kometenhafte Aufstieg des Online-Handels, der immer stärker über Plattformen wie Klarna, Paypal – oder dessen deutsches Pendant Giropay – abgewickelt wird und nicht über Lastschrift oder Rechnung erfolgt. Die Wachstumsraten beim Einkauf in der digitalen Welt sind enorm, und daher steigt automatisch auch die Bedeutung unbarer Bezahlvorgänge.
Dazu kommt, dass es besonders US-Dienstleistern mit ihrer radikalen Verbraucherdenke in den vergangenen Jahren gelungen ist, einen kardinalen Hemmschuh jedweden Konsums quasi auszuradieren: den Schmerz des Bezahlens. Wer im Internet über Dienstleister wie Paypal, Amazon oder Apple Pay einkauft, braucht nicht viel mehr als zwei, drei Klicks, um sich alle seine Wünsche zu erfüllen.
Bargeld und digitaler Euro
Finanztechnisch ausgedrückt sei das Bezahlen aus Kundensicht „kein Mehrwert stiftender Anwendungsfall, sondern ein notwendiges Übel“, schreibt die Beratungsfirma Deloitte in einer Studie zum Bargeld. Dieses auszublenden, sei daher das Ziel.
Bundesbank-Experte Schrade sagt, bei digitalen Bezahlvorgängen, die nahtlos in den Kaufvorgang eingebettet werden, sei der „Schmerz des Bezahlens“ weniger spürbar als etwa beim Bargeld, wo Münzen und Scheine erst ergriffen und dann aus der Hand gegeben werden müssten. Auch psychologisch macht es also einen Unterschied, wie bezahlt wird – bar oder unbar.
Rein digitale Finanzen haben Tücken
Ist das goldene Zeitalter des Bargelds also zu Ende, gut 2500 Jahre nachdem König Krösus von Lydien die Goldmünzen erfand? So weit ist es noch nicht. Die Bundesbank rechnet nicht mit einer Abschaffung von Scheinen und Münzen in den nächsten Jahrzehnten. Eine rein digitale Finanzwelt hat nämlich auch ihre Tücken. Ein Stromausfall oder ein Hack der wichtigsten Super-Apps würde China heute schon an den Rand des Chaos bringen, vermutet Berners. „Ich will gar nicht wissen, was dort dann passiert.“
Tatsächlich ist auch für die Bundesbank die Resilienz in Krisenfällen ein Argument fürs Bare. Die Banker sprechen vom Bargeld „als einzige Ausfalllösung“ in einer digitalisierten Gesellschaft. Als Instrument zur Krisenprävention sei die Aufrechterhaltung der Bargeldversorgung wichtig, auch wenn damit höhere Transaktionskosten einhergingen.
Und es gibt noch ein letztes beharrendes Moment – die Alten. Die Bereitschaft, unbar Geld auszugeben, sinkt mit dem Alter und mit dem Vermögensstand. Anders ausgedrückt zahlt, wer arm und alt ist, selten mit App oder Kreditkarte. Dazu kommen Kinder, die rein rechtlich von diesen Zahlungsmedien ausgeschlossen sind.
Bargeld erfülle die wichtige gesellschaftliche Aufgabe der Teilhabe, sagt etwa Bundesbankvorstand Burkhard Balz. Und Fachmann Schrade ergänzt: „Wir müssen sicherstellen, dass alle Gruppen der Bevölkerung bei neuen Zahlungstrends mitgenommen und nicht ausgeschlossen werden.“ Klingt so, als sei das Bargeld doch noch nicht ganz am Ende.