Militärparaden und Waffenmessen, Heldendenkmäler und Truppenübungsplätze, Friedhöfe und Soldatenwitwen, Ruinen und Versehrte. Die Bildwelten des Fotografen Meinrad Schade erzählen von Orten und Situationen, Menschen und Schicksalen, jenseits der direkten kämpferischen Auseinandersetzungen. Immer jedoch bleibt der kriegerische Konflikt präsent.
Der Konflikt im Alltag
„Ich mache Kriegsbilder, ohne in den Krieg zu ziehen“, erklärt Schade seinen Ansatz der fotografischen Langzeitstudie, mit der er seit über 20 Jahren die Auswirkungen von Krieg und Gewalt auf Mensch und Gesellschaft, Landschaft und Umwelt, in verschiedenen Krisengebieten der Welt untersucht. „Krieg ohne Krieg“ nennt er sein Projekt und sagt: „Mein Fokus liegt nicht auf dem eigentlichen Kriegsgeschehen, sondern auf der Frage wie sich ein Konflikt im Alltag zeigt.“
So rücken Schades Aufnahmen das Davor und Dahinter, das Daneben und Danach kriegerischer, teils langandauernder Konflikte an Schauplätzen in der ehemaligen Sowjetunion, Israel und Palästina, aber auch Frankreich und Großbritannien, in den Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit. „Im Gegensatz zur klassischen Kriegsfotografie geht es mir um Schauplätze, die sich in unterschiedlicher räumlicher und/oder zeitlicher Distanz zu den Kriegen befinden“, betont Schade seine Intention.

Dem Betrachter begegnen keine spektakulären oder grausamen Bilder der Gewalt, sondern vielmehr sorgsam beobachtete Momentaufnahmen, deren Bedeutung und Aussage sich oftmals erst auf den zweiten Blick entschlüsseln. Wertvolle Informationen zu Inhalt und Kontext der Werke erhält der Besucher dabei durch ein umfangreiches Begleitheft mit erläuternden Ausführungen des Fotografen.
Ein Lebensprojekt
Geboren 1968 in Kreuzlingen, lebt und arbeitet Meinrad Schade heute als freier Fotograf in Zürich. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, unter anderem 2011 mit dem Swiss Photo Award. Seit 2003 reist Schade in Staaten und Krisengebiete, um dort visuelle Spuren kriegerischer Handlungen festzuhalten, was er inzwischen als sein „Lebensprojekt“ bezeichnet.
Aufgeteilt in verschiedene Kapitel mit Überschriften wie „Spiel und Geschäft“, „Helden“, „Ungelöst“ oder „Der Ruf der Mutter Heimat“ schickt die Werkschau den Betrachter auf einen Parcours durch das komplexe und ambivalente Spektrum von Leid und Gewalt, Erinnerung und Fiktion, in der Lebensrealität abseits des Krieges.
Schade fängt dabei teils bizarre, teils leidvolle, teils erschreckende Augenblicke ein, etwa bei sogenannten „Reenactors“, die in der beliebten „War & Peace-Show“ in der idyllischen Grafschaft Kent in historischen Uniformen den Zweiten Weltkriegs nachspielen, um – wie sie sagen – „Geschichte erfahrbar zu machen und so das Bewusstsein für die Schrecken des Krieges zu schärfen“. Oder Geschäftsmänner beim Fachsimpeln auf Waffenbörsen, Militärfans mit ferngesteuerten Spielzeugpanzern, Puppenmodelle, die zu medizinischen Übungszwecken Opfer eines Terrorangriffes nachbilden. Monströse Attrappen von Flugabwehrsystemen, riesige Waffenarsenale in Militärmuseen, Porträts vermisster Kämpfer in der Region Karabach, entstellte Opfer von Atombombentests in Kasachstan, russische Kriegsveteranen, die unter der Last ihrer Orden und Ehrenmedaillen fast verschwinden, Vertriebene in Inguschetien, Studenten in Jericho beim frühmorgendlichen Training in Kampfmontur und mit Holzgewehr.

Schades Bilder transportieren Fragen nach der Anwesenheit des Krieges im „normalen“ Alltagsgeschehen der Menschen, die unmittelbar oder indirekt davon betroffen sind. Welche Spuren zeigen sich in Gesichtern und Körpern? Wie verändert der Krieg das Aussehen von Räumen und Orten? Wie bestimmt er unsere Erinnerungskultur? In die Ausstellung als große Wandtexte integriert sind Schades eigene Fragestellungen: „Ist ein Krieg je zu Ende?“, „Ist Wohlstand nur durch militärische Absicherung möglich?“, „Ist es naiv, an eine Zukunft ohne Krieg zu glauben?“ oder „Lernen wir aus der Geschichte?“.
Raus aus der Endlosschleife
Ebenso wirft die Ausstellung die Frage auf, ob solche Bilder von „Nebenschauplätzen“ mehr zu leisten vermögen, als explizite Aufnahmen von Gefechten, die sich heute nicht selten „in der Endlosschleife aktueller Berichterstattung erschöpfen“, so Museumsleiter und Kurator Christoph Bauer. Schades Fotografien vermitteln die „andere“ Realität der Menschen, die Kriege und Konflikte tagtäglich erleiden und erdulden müssen.
Formalästhetisch betrachtet bewegen sich die Farbfotografien im Spannungsfeld zwischen nüchterner, gleichsam sachlicher Dokumentation und kritischer Neugierde. Mit technischer Perfektion und Präzision sowie einer klaren, einfachen Bildsprache machen Schades sorgfältig komponierte Aufnahmen das Unsichtbare, die Zwischentöne und auch Widersprüchlichkeiten und Absurditäten in den geschilderten Szenen sichtbar. Ein Erstaunen und Erschrecken erfasst den Betrachter. Nicht selten wirken die Bilder geradezu unwirklich.
Wahrnehmung von Leid
Die Fotoarbeiten regen zum Diskurs an, sie hinterfragen unsere Wahrnehmung von Leid und Gewalt, unseren Umgang mit der Bildsprache kriegerischer Konflikte. Schades Aufnahmen erzählen Geschichten, gewähren ebenso überraschende wie irritierende Einblicke in den fragilen Schwebezustand des Alltagslebens zwischen Krieg und Frieden in Ländern und Regionen, die von lange schwelenden Konflikten beherrscht werden oder in denen die Erinnerung an einen großen Krieg und die Erfahrung von Gewalt sich tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben haben.
Meinrad Schades Fotografien können einen nicht unbeeindruckt lassen. Indem er nahe an Gesichter, Menschen, Situationen und Geschehnisse heranrückt, fühlen wir uns involviert in das Gezeigte. Die aufwühlenden Bilder erzeugen Anteilnahme und zugleich Aufforderung, über unsere Welt nachzudenken.
„Meinrad Schade – Krieg ohne Krieg„, bis 10. Januar 2021 im Kunstmuseum Singen. Öffnungszeiten: Di.-Fr. 14-18, Sa.-So. 11-17 Uhr. Weitere Informationen: www.kunstmuseum-singen.de