Da ist zum Beispiel der 15-jährige Posaunist, der zu Jahresbeginn noch begeistert von den Proben seines Blasorchesters erzählte: Wie schön und ergreifend im Zusammenspiel so ein simpler C-Dur-Akkord sein kann! Neun Monate später rührt er sein Instrument nicht mehr an. Nur so für sich allein bringt das Spielen wenig Freude, jetzt vertreibt Netflix die Langeweile.
Unwiederbringliche Verluste
Die Coronakrise hat in das kulturelle Leben eine Schneise geschlagen. Das gilt nicht so sehr für langjährige Theaterbesucher, die halt mal ein paar Monate lang zuhause bleiben müssen. Auch nicht für fest angestellte Orchestermusiker und Schauspieler, die trotz Gehaltseinbußen noch sozial abgesichert sind. Ja, selbst viele der am schlimmsten gebeutelten freischaffenden Künstler werden Wege aus der Krise finden. Die unwiederbringlichen Verluste gibt es vielmehr bei Kindern und Jugendlichen.

Gemeinsam ein Kunstwerk zu erschaffen, diese Erfahrung gräbt sich in unser Bewusstsein nämlich tiefer ein, als mancher sich vorstellen mag. Das fängt damit an, sich abhängig von der jeweiligen Situation im richtigen Maß einbringen und auch wieder zurücknehmen zu können. Es setzt sich fort in der Herausforderung, eigene Stärken und Schwächen realistisch einzuschätzen. Und es hört nicht auf bei der Ausbildung von Toleranz für die Fehler anderer. Sie meinen, was all diese Eigenschaften betrifft, hätten wir aktuell ja schon genügend Nachholbedarf? Genau das ist der Punkt.
Isolation und Intoleranz
Die seit Jahrzehnten erkennbare Zunahme von Verschwörungstheorien und politischer Radikalisierung liegt nämlich nicht allein in den digitalen Medien und deren Möglichkeiten, Stuss zu verbreiten. Sie besteht vor allem darin, dass schon allein die exzessive Beschäftigung mit dieser Technologie Isolation, Egozentrik und Intoleranz befördert hat. Das Märchen von den „sozialen“ Medien, die „die Menschen zusammenbringen“ (Facebook-Gründer Mark Zuckerberg), glaubt jedenfalls kein Mensch mehr.
Gespräch, Beobachtung, Berührung
Kultur ist weit mehr als Kommunikation. Nämlich Gespräch, Beobachtung, Berührung. Theaterspiel heißt nicht, eine andere Identität vorzulügen: Es bedeutet das aufrichtige Bemühen, fremdes Denken und Handeln für kurze Zeit zum eigenen werden zu lassen. Man muss dazu andere Menschen verstehen wollen, statt sie nur zu verurteilen.

Fälle wie zuletzt die Kontroverse um eine Kabarettistin dokumentieren in beunruhigendem Ausmaß, wie wenig bekannt und akzeptiert selbst einfachste Bedingungen von Kunst inzwischen sind.
Dass beispielsweise ein auf der Bühne gesprochener Satz nicht zwangsläufig die Meinung desjenigen wiedergibt, der ihn spricht, scheint für Millionen Menschen in diesem Land eine völlig unbegreifliche Vorstellung zu sein. Die Ursachen für diesen Zustand sind gewiss vielfältig. Eine Verdrängung von analoger (dass man dieses Wort überhaupt sagen muss!) Kulturerfahrung durch digitale Medien gehört aber zweifellos dazu.
Hütet euch vor den Lobbyisten!
Natürlich ist es notwendig, Schulunterricht besser über Videoplattformen anzubieten, als ihn ganz ausfallen zu lassen. Und selbstverständlich können digitale Medien auch außerhalb von Krisenzeiten eine sinnvolle Ergänzung darstellen. Man hüte sich aber vor den Versprechungen jener Lobbyisten, die ihre vergleichsweise primitive Kommunikationstechnologie zum Kulturgut verklären!
Wenn wir aus Sorge vor Ansteckung unsere Kinder zu Netflix schicken statt ins Blasorchester (oder auch in den Sportverein), dann entwöhnen wir eine ganze Generation vom Leben in ästhetischen wie sozialen Zusammenhängen – und den damit einhergehenden Widersprüchen. Die ersten Früchte dieser Entwicklung lassen sich schon heute besichtigen.