Juristisch gesehen gilt die Sache als unstrittig: Konzertveranstalter und Theaterhäuser dürfen weitgehend selbst entscheiden, welchen Personen sie Zutritt gewähren. Wer nur Geimpfte einlässt, verstößt nicht gegen das Diskriminierungsverbot. Ist es also in Ordnung, wenn wir demnächst mit der Eintrittskarte auch unseren Impfpass vorweisen müssen?

Recht ist nicht Moral, und was gerecht ist, hängt von der Perspektive ab. Beginnen wir mit dem Extremfall und stellen uns vor, schon morgen gäbe es Konzerte exklusiv für Geimpfte. Der Aufschrei wäre groß, weil mangels Impfstoffs ein großer Teil des potenziellen Publikums ganz ohne eigenes Verschulden ausgeschlossen wäre. Von „ungeheurer Diskriminierung“ spricht zum Beispiel Schlagersänger Dieter Thomas Kuhn. Doch mit dem D-Wort wird ja zurzeit auf vieles eingedroschen, was nur einen Hauch von Ungleichbehandlung verrät.
Künstler würden profitieren
Hochbetagte etwa haben nicht mehr allzu viele Gelegenheiten, Kultur gemeinschaftlich zu erleben. Dürften sie vorzeitig Konzerte besuchen, nähmen sie niemandem etwas weg. Kein Akkord wird anschließend fehlen, kein Satz aus dem Theaterrepertoire fallen, nur weil manche ihn bereits früher vernehmen durften. Richtig ist sogar das Gegenteil: Je eher Künstler ihrem Beruf nachgehen können, desto mehr von ihnen werden diese Krise überstehen. Davon profitieren auch Menschen, die sich mit der Impfung noch gedulden müssen.
Allerdings sprechen jenseits von Missgunst sehr gute Sachgründe gegen ein solches Szenario. Noch ist nicht geklärt, ob und wie stark Impfung auch vor Infektion schützt. Die verfrühte Freigabe von Veranstaltungsbesuchen für Geimpfte könnte so ein verdecktes Ausbreiten von Corona begünstigen – fatal vor allem angesichts der Virusmutation. Zudem hat kein Impfstoff eine hundertprozentige Schutzwirkung. Und nicht zuletzt wären dann auch Künstler und Mitarbeiter vorzeitig zu impfen, dieses Privileg ließe sich der Öffentlichkeit kaum vermitteln.
Impfangebot im Sommer?
Szenario Nummer zwei: Die Regierung hält ihr Versprechen, und im Sommer erhält jeder Bürger ein Impfangebot. Jetzt aber alle rein ins Theater?
Kommt drauf an. Zunächst dauert es, bis eine Impfung anschlägt. Die neuartigen mRNA-Impfstoffe entfalten ihre volle Wirkung erst zwei Wochen nach Verabreichung der zweiten Dosis. Dann bleibt abzuwarten, ob dem Virus bis dahin nicht doch noch eine Mutation gelingt, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Auch ist noch offen, wie viele Menschen am Ende tatsächlich bereit sind, sich impfen zu lassen.
Irgendwann jedoch wird der Punkt erreicht, an dem die sozialen und ökonomischen Kollateralschäden das epidemiologische Risiko aufwiegen. Eine Rückkehr in den Kulturbetrieb ist dann unausweichlich. Und zu den Voraussetzungen für diese Rückkehr wird neben strengen Hygiene-Konzepten auch eine zweite Maßnahme gehören: Impfpass-Kontrollen.
Ja, das führt zu Ungerechtigkeiten. Beispielsweise beruht fehlende Impfbereitschaft nicht immer nur auf Unwillen. In manchen Fällen lassen schlicht gesundheitliche Umstände eine Impfung nicht zu. Absolute Gerechtigkeit aber ist grundsätzlich ebenso wenig zu haben wie hundertprozentige Sicherheit.
Solidarität mit den Künstlern
Je früher Kultur wieder möglich ist, desto mehr bleibt von ihr erhalten. Es darf nicht dazu kommen, dass wir aus Solidarität mit Besuchern unsere Solidarität mit Künstlern fallen lassen. Die Kulturszene zerstört, aber Hauptsache, niemand fühlt sich benachteiligt: Dieser Triumph der Gerechtigkeit wäre für alle ein Pyrrhussieg.
Wenn wir statt einzelner Befindlichkeiten das große Ganze in den Blick nehmen, kann uns Szenario Nummer drei gelingen. In diesem Fall führen Geduld und das Zurückstellen individueller Interessen zu niedrigen Fallzahlen, hoher Immunität und einer gesunden Kulturlandschaft. Wir alle können gewinnen, wenn einige bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen. Es ist ja nicht von Dauer.