Hilfreich, sagt der Schriftsteller Arnold Stadler, sei Wissenschaft, solange ihr Hauptsatz gilt: „Wir wissen es nicht oder noch nicht ganz.“ Gilt dieser Satz nicht mehr, wird es gefährlich. Und es wird gerade gefährlich.
Es sind einfach zu viele Hoffnungen, die auf der Forschung ruhen. Ob Pandemiebekämpfung, Klimawandel oder Rassismusproblem: Kaum ein drängendes Thema lässt sich noch diskutieren, ohne dass einer „wissenschaftlich erwiesen!“ schreit. Sich vor einer Meinungsäußerung gefälligst „auf den Stand der Forschung“ zu bringen (meist ist nur ein dem eigenen Weltbild genehmer Stand gemeint), wird zum Totschlagargument. Der öffentliche Diskurs kapituliert vor der Autorität der Professoren.
Gleichzeitig greift Staunen um sich: Wie kann es sein, dass Halbgötter, die auf jeden Lebensbereich eine alleingültige Antwort wissen, sich bei einem kleinen Virus so schwertun?
Unsere Gesellschaft hat eine naive Vorstellung von Wissenschaft entwickelt. Demnach fallen an Universitäten finale Erkenntnisse mit derselben Selbstverständlichkeit vom Schreibtisch wie Brezeln aus dem Ofen des Bäckers. Zum Tagwerk eines Forschers, so glauben nicht wenige, gehören mindestens fünf knusprige Beweisführungen. Inhaltsstoffe: Garantiert frei von Widersprüchen! Mindesthaltbarkeitsdatum: „ewig“.
Tatsächlich sind letzte Gewissheiten in den Naturwissenschaften rar und in den Geisteswissenschaften äußerst rar gesät. Zahlreich dagegen die Irrtümer: Als „wissenschaftlich belegt“ galt einmal, dass genitale Stimulation vor Hysterie schütze. Wegen falscher Daten zum Eisengehalt mussten Generationen von Kindern Spinat essen. Selbst die schlichte Frage nach der Planetenanzahl unseres Sonnensystems findet von Zeit zu Zeit eine neue Antwort.
Seriöse Wissenschaftler hüten sich deshalb, mit dem Begriff „Wissen“ hausieren zu gehen. Sie sprechen lieber von mühsamer Annäherung an so etwas wie Wahrheit, von ständigem Zweifel und davon, dass jede Antwort zwanzig neue Fragen aufwirft. Und sie sind sich der Tatsache bewusst, dass ihre eigene Disziplin statt des ganzen Bildes meist nur Ausschnitte erfasst: Allein die Frage nach einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung kennt neben epidemiologischen Wahrheiten auch ökonomische, soziale, kulturelle.
Dass sich dennoch die Vorstellung von einem allwissenden Akademikerbetrieb etablieren konnte, hat mehrere Gründe. Medien bedienen in unsicheren Zeiten nur zu gerne die verbreitete Sehnsucht nach festem Boden unter den Füßen. Da verkauft sich eine vermeintlich gesicherte Erkenntnis besser als die wacklige These. Bei steigender Abhängigkeit von Drittmitteln sieht sich mancher Wissenschaftler gezwungen, das Spiel mitzuspielen: Prominenz sichert Forschungsgelder.
Eitelkeiten und Weltanschauungen
Doch es sind nicht immer äußere Umstände, die Forscher zur Selbstüberhöhung verleiten. Immer öfter scheinen Eitelkeiten und persönliche Weltanschauungen durch. Linguisten, Soziologen, Kulturwissenschaftler: Wo eigentlich professionelle Distanz zu erwarten wäre, lassen sich zunehmend „linke“ und „rechte“ Positionen erkennen.
Was waren das für Zeiten, als wir Journalisten uns noch abmühen mussten, einem Wissenschaftler konkrete Aussagen zu entlocken! Heute haut er auf Twitter ganz von selbst knallige Thesen raus: Im Dienst der tatsächlich oder nur vermeintlich guten Sache lässt mancher Forscher jede akademische Distanz fallen, mutiert zum Aktivisten mit Doktorhut.
In Wahrheit ist es weder Aufgabe der Wissenschaft noch entspricht es ihren Möglichkeiten, den Menschen zu erklären, wie sie sprechen, was sie lesen, wie sie leben sollen. Unsere Kultur müssen wir schon selbst regeln.
Es wird Zeit, den öffentlichen Diskurs wieder aus der Umklammerung naiver Wissenschaftshörigkeit zu befreien. Demokratie bedeutet die Herrschaft des Volkes, nicht der Experten. Der Wissenschaft selbst sollte daran gelegen sein: bevor aus enttäuschten Erwartungen verlorenes Vertrauen wird.