Herr Stadler, wie geht es Ihnen in Zeiten der Pandemie?

Mir geht es gut. Mein Zustand lässt sich vielleicht am besten für mich in einem meiner paradox scheinenden Sätze ausdrücken: „Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich immer noch soviel Hoffnung hatte“.

Schriftsteller leben nicht allein von den Tantiemen für ihre Bücher. Wieviel Lesungen sind bisher ausgefallen?

Alle, seit fast einem Jahr, bis auf eine bei der Eröffnung des von Anton Knittel betriebenen Literaturhauses von Heilbronn in einem Wasserschloss, das genau in unsere Zeit passt, in der die Sehnsucht etwas Luftblasenartiges und Luftschlossartiges hat. Das war im Sommer.

Sie haben keine Staatshilfe erhalten, wie ich weiß, warum nicht?

Ich habe im Frühjahr mit der Hilfe einer so wunderbaren wie internettüchtigen Freundin am letztmöglichen Tag im Mai in Baden-Württemberg die erste Hilfe beantragt, die zugleich meine letzte war. Denn ich werde eine solche „Coronahilfe“ wohl nicht mehr beantragen, bin ja auch schon bald siebzig.

Ich dachte, ich hätte als selbständiger, umsatzsteuerzahlender, prosperierender Ein-Mann-Betrieb ein Recht darauf. Aber das wurde abgelehnt, mit einer Automatenantwort. Das liegt aber auch an mir Bürokratiemuffel, der nicht einmal einen Corona-Sofort-Hilfe-Antrag stellen kann. Ich verließ mich wohl zu sehr auf Wörter wie „formlos“ und „unbürokratisch“. Kurz: Ich möchte meine Verantwortung auch hier nicht auf andere abwälzen. Wie ich höre, haben diese Hilfe tausende von Einmann-Einfrau-Betrieben bekommen, die etwas lebenstüchtiger sind als ich, und selbstverständlich die Lufthansa…

Das macht schon etwas sprachlos. Vermissen Sie eigentlich den Kontakt zu Ihren Leserinnen und Lesern?

Nein, denn es gibt diese Verbindung auch so. Das Schreiben ist ja schon von Anfang an etwas Einsames, etwas „ganz-für-sich“, wie das Lesen auch, im schönsten Fall ist Beides etwas Zweisames. Alles, was darüber hinausgeht, hat mit Performance und Theater zu tun. Über Briefe und Mails und Anrufe bin ich mit meinen Leserinnen und manchmal auch Lesern verbunden. Im Herzen sowieso und irgendwie.

„Das Schreiben ist ja schon von Anfang an etwas Einsames“: Arnold Stadler beim Anfertigen von Notizen.
„Das Schreiben ist ja schon von Anfang an etwas Einsames“: Arnold Stadler beim Anfertigen von Notizen. | Bild: Kopitzki, Siegmund

Der Schriftsteller Daniel Kehlmann spricht in einer Rede mit Blick auf Naturkatastrophen von einem „göttlichen Atomschlag“. Was denkt der Theologe Arnold Stadler über solche Anschuldigungen?

Das kann mein sehr geschätzter Kollege nur metaphorisch gemeint haben. Das kann nur ein Bild sein. Ist aber ein großes, das auf zeitgemäße Weise wohl die alte Geschlagenheit des Menschen meint, zwischen Urknall und Schwarzem Loch. Wenn ich recht informiert bin, stehen die Maßnahmen von heute in Verbindung mit einem Gesetz, das immer noch das Wort „Seuche“ zum Ausgang hat, dem deutschen Infektionsschutzgesetz. Es gehört zum Polizeirecht und kann also die auch im Grundgesetz ganz oben proklamierten Freiheitsrechte des Menschen massiv einschränken, wie wir gesehen haben.

Das schwere, schwer verseuchte Wort „Seuche“ ist zwar aus dem wissenschaftlichen Tagesverkehr einer wissenschaftsgläubigen Welt gezogen, die das zugleich unheimliche Wort durch das technische, Beherrschung wie Herrschaft suggerierende „Pandemie“ ersetzt. Wie wir sehen, kommt da Gott nur noch in der Metapher vom Atomschlag Gottes vor. Für mich sind „Urknall“ und „Schwarzes Loch“ auch nur zentrale Bilder des Menschen, heute, die ich keineswegs bestreite. Mir Sprachmenschen gefallen aber die alten Bilder von „Schöpfung“ und „Paradies“ besser, wenn es um die ersten und letzten Dinge des Menschen geht.

Corona im Fleckviehgau“ – es soll Schriftsteller geben, die Corona zum Thema ihrer Bücher machen. Sie aber nicht...

Nein, weil ich gar nicht wüsste, was ich so schnell sagen sollte. Mich erinnert das an den Mao-Ministerpräsidenten Tschu En Lai, der um 1970 herum zur Französischen Revolution von 1789 bemerkt haben soll: „Es ist noch zu früh, sich darüber zu äußern“. Ja, ich habe nicht vor, ein Buch zu diesem treibenden Thema zu veröffentlichen. Indes habe ich im vergangenen Jahr so viel Tagebuch geschrieben, wie schon seit 1975 nicht mehr. Da steht alles drin, für mich wenigstens.

Arnold Stadler über die Pandemie: „Wir leben in einer schnellen, so plotreichen wie poesiearmen Zeit“.
Arnold Stadler über die Pandemie: „Wir leben in einer schnellen, so plotreichen wie poesiearmen Zeit“. | Bild: Kopitzki, Siegmund

Ihr nächster Roman spielt in Teilen in Afrika am Kilimandscharo in einer anderen Zeit. Erzählen Sie bitte...

Mein neues Buch heißt „Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo“ und spielt nicht in einer anderen Zeit und Welt, sondern vor vier Jahren, hier und heute, und in der Erinnerung, die Datums- und Jahreszahlgrenzen nicht kennt, die im Erzählen alles zu einer Gegenwart macht.

Dazu gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen, wohl aber auch von der Maul- und Klauenseuche, die ich als Kind in Rast als verstörend und einschneidend erlebte: Ich sehe noch die Totenköpfe um das hermetisch abgeriegelte Haus für die zu strengem Hausarrest verurteilten Menschen. Mein neues Buch ist im Übrigen schon vor dem schönnamigen Corona geschrieben, das ich bis dahin mit einem mexikanischen Bier oder einem gelehrten Begriff aus der Astronomie und der Kunstwissenschaft zusammenbrachte, und mit einem Gedicht von Paul Celan.

Corona kommt aber in meinem neuen Buch doch vor... noch vor Corona. Und ohne dass ich von diesem uns bestimmenden Phänomen wissen konnte, habe ich über eine ähnlich sprachverschlagende Erfahrung meiner Kindheit schon ausführlich in meinem zweiten Buch „Feuerland“ geschrieben, deren sich der Erzähler am Fuß des Kilimandscharo abermals erinnert. Es war die so aus einer anderen Welt nachklingende Maul- und Klauenseuche, so hörte ich es im vergangenen Frühjahr einen Tiermedizinprofessor im TV sagen, die mit dem Corona-Virus verwandt sei.

Es ist der erste von zwei Bänden, hörte ich. Warum haben sie den Inhalt nicht in ein einziges dickes Buch gepackt?

Weil dicke plotarme Bücher im täglichen Treiben schon heute von gestern sind. Wir leben in einer schnellen, so plotreichen wie poesiearmen Zeit. Corona ist für Schriftsteller und Leser, die zu Plots neigen, ja etwas Wunderbares. Da hätte ich nichts verloren.

Wann wird der Kilimandscharo-Roman erscheinen?

Bald. Im März.

Um noch einmal auf Covid-19 zu sprechen zu kommen: Das Virus macht Angst. Die täglich präsentierten Zahlen der Infektionen und der Tote, die stetigen Bilder aus den Intensivstationen wirken bei vielen Menschen als Verstärker. Schauen Sie noch Fernsehnachrichten?

Ja. Die Corona-Angst habe auch ich. Lese aber nicht die Endlosschleifen der neuesten Zahlen, verkündigt in den täglichen Nachrichten, wie früher die neuesten Verlautbarungen durch den Ausscheller in meinem Dorf von einst, als wären es Lottozahlen. Bei manchem vielleicht mit einer insgeheimen Freude, dass es einen nicht getroffen hat. Es ist auch viel Sensationsaktivismus, was ich in der Glotze und ihren Talkshows beobachten kann. Freilich auch Menschenliebe, ja Heroismus, gerade in den Altersheimen und Krankenhäusern.

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Sie werden sich impfen lassen?

Ich werde mich als braver Zeitgenosse baldmöglichst impfen lassen. Vielleicht bekomme ich einen Termin, als alter Asthmatiker mit seiner schon seit über dreißig Jahren erfahrenen Atemlosigkeit. Ich bin den einzelnen Fortschritten in der Pharmakologie überaus dankbar, gerade für die gut funktionierenden Asthma-Sprays. Und jetzt auch für die Impfung gegen Corona.

Aber die Krankheit und der Tod selbst sind dadurch noch nicht aus der Welt geschafft. Ein Hauptsatz jeglicher Wissenschaft müsste doch immer noch sein: „Wir wissen es nicht… Noch nicht ganz“. Und solange dieser Vorbehalt gilt, halte ich die Wissenschaften für etwas sehr Hilfreiches, das dem Menschen in seinem täglichen Leben weiterhelfen kann, bis fast zuletzt. Hilfe kommt nun von der Wissenschaft, wie wir alle erleben können. Auch gut, solange die Hoffnung des Menschen und sein Glaube an etwas jenseits von Corona, und wäre es das schöne tägliche Diesseits, sich nicht darauf beschränken.

Jetzt höre ich den Theologe Stadler heraus…

Der Mensch sollte auch nicht vergessen, dass Corona etwas ist, das nicht nur mit den Virologen und Epidemie-Experten zu tun haben kann, mit dem technischen Zugriff, sondern mit den Menschen wie Du und ich, die wir alle sterblich sind und sterben, auch an dem ungeheuren Corona. Corona hat für mich im Grunde mit der bodenlosen Angst vor dem Tod zu tun, die man aber nicht über den Aktivismus einer Gesundheitsreligion vom täglichen TV-Tisch bekommt, als wäre sie alleinseligmachend. Üben wir uns also in Zuversicht.