Liebes neues Jahr,

machen wir uns nichts vor: Du bist auch nur eine Zahl wie dein Bruder, diese Null. Nichts wird besser, bloß weil du dir stolz die Eins ans Hinterteil pappst.

Was haben wir nach der letzten Silvesternacht nicht für hehre Erwartungen gehegt! Die Große Koalition, schrieben wir damals, werde künftig nicht mehr so viel streiten, der Bundeshaushalt gebe nach Jahren der Sparsamkeit wieder mehr Spielraum für soziale Wohltaten her, und den Rechtspopulisten dürften allmählich die Themen ausgehen. Wahr wurde dann gerade mal Punkt eins: Für Koalitionskrach blieb 2020 vor lauter Krise schlicht keine Zeit.

Geld und Vergnügen

Was also kannst du für uns noch tun, 2021? Vielleicht verhält es sich mit euch Jahren ja wie mit dem Glasmännlein in Wilhelm Hauffs Schwarzwald-Märchen vom kalten Herzen. Auch das will dem armen Kohlenmunk-Peter helfen und seine drei größten Wünsche erfüllen. Dumm nur, wenn es die falschen sind. Im Fall des Kohlenmunk-Peter gelten die ersten beiden Wünsche dem Geld und dem Vergnügen. „Verstand und Einsicht hättest du wünschen sollen!“, ruft das Glasmännlein und wirft zornig seine Glaspfeife an eine Tanne, dass sie in tausend Stücke springt.

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Statt also mit niedrigeren Steuern, höheren Renten, weniger Sozialabgaben und mehr Mindestlohn sollten wir es diesmal mit Verstand versuchen. Zu den Menschen, die sich damit auskennen, zählt der amerikanische Soziologe Mike Davis. Er hat die Pandemie bereits vor Jahren vorausgesagt.

Im globalen Agrar-Kapitalismus, schrieb er 2005, sei es nur eine Frage der Zeit, bis eine „mutierende, albtraumhaft ansteckende Influenza mit horrendem Tempo durch eine dicht urbanisierte Menschheit rast“. Zwar ist es nun statt eines Grippe- ein Coronavirus geworden. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Nährboden für Pandemien immer noch gut gedüngt ist.

Überfischte Meere, schrumpfende Artenvielfalt

Er besteht aus industrialisierter Massentierhaltung mit Fleischkonsum zu Billigpreisen. Aus überfischten Meeren und schrumpfender Artenvielfalt, damit unsere Supermarktregale schön voll aussehen. Und aus Hedonisten, die selbst in einer historischen Ausnahmesituation nicht auf Skizirkus verzichten können. Mit unserer alljährlich wachsenden Gier nach Geld und Vergnügen haben wir uns selbst in Quarantäne gewünscht.

Der Kohlenmunk-Peter hat zum Glück noch einen dritten Wunsch frei. Den darf er allerdings erst äußern, wenn er wieder bei Sinnen ist. „Du wirst noch in manche Verlegenheit kommen, wo du froh sein wirst, wenn du einen Wunsch frei hast“, belehrt ihn der Glasmann.

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Befinden wir uns schon in dieser Verlegenheit? Offenbar noch nicht alle. Vielleicht aber wenigstens die meisten. In diesem Fall, liebes neues Jahr, schenke uns bitte Verstand und Gesundheit. Dann brauchen wir deine Nachfahren auch nicht mehr mit unserem Gequengel in den Ohren zu liegen: Weil wir verstehen, dass nicht ihr Jahreszahlen schuld seid am Unglück dieser Welt. Sondern wir selbst.

Mit freundlichen Grüßen

Johannes Bruggaier, Kulturredaktion