Die Malediven überragen den Meeresspiegel um gerade mal einen Meter und werden deshalb des Klimawandels erstes Opfer sein. Es ist ein Tod auf Raten. Statt einer Flutwelle steigt der Pegel ganz allmählich, von Tag zu Tag verwandelt sich das lukrative Taucher-Paradies in einen lebensfeindlichen Nicht-Ort, mehr Sandbank als Insel.
Wenn die Feuchtigkeit bereits jedes Fundament durchdrungen und den Tourismus zum Erliegen gebracht hat, ein dauerhaftes Wohnen nur noch in den höheren Etagen der Gebäude möglich ist: Welche Menschen wird es dort noch halten?
Zukunftsszenario für Malé
Vielleicht werden es gar nicht so sehr die Nachkommen der heutigen Einheimischen sein. Der Schriftsteller Roman Ehrlich skizziert in seinem neuen Roman ein Zukunftsszenario für die Hauptstadt Malé. Bei Flut steht das Wasser knöchelhoch in den Straßen, die Bewohner tragen Gummischuhe und Anglerhosen. Zwischen verlassenen Hotels und von der Brandung abgebrochenen Küstenstraßen begegnen uns Menschen aus aller Welt: Aussteiger, Untergangs-Voyeure, Weltretter.
Da ist die niederländische Aktivistin Hedi Peck, die den angeschwemmten Müll in neues Land umwandeln und damit eine neue Zivilisation erschaffen will. Dieses Mal freilich unter weiblicher Führung. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Frances Ford sucht nach Spuren des hier verschollenen Lyrikers Frank Judy. Und Elmar Bauch will herausfinden, was mit seiner Tochter geschehen ist, der berühmten Schauspielerin Mona Bauch. Handelt es sich bei der gefundenen Wasserleiche wirklich um ihre sterblichen Überreste? Ist sie mit Selbstmordabsichten nach Malé gefahren? Und gibt es dabei eine Verbindung zum verschollenen Lyriker?
In der Endzeitstimmung treten die Widersprüche einer Gesellschaft besonders grell zutage. Mit ihrer Sehnsucht nach Einsamkeit können die Aussteiger doch vom Internet nicht lassen. Und so gerne sie ihre freiheitliche Gesinnung vor sich her tragen, so wenig trauen sie sich, den faktischen Autoritäten etwas entgegenzusetzen: etwa dem mysteriösen Professor, der sich in seinem Büro über der beliebtesten Kneipe als Führerfigur inszeniert. Oder der noch geheimnisvolleren Miliz, die von einem alten Kreuzfahrtschiff aus manch todbringendes Manöver unternimmt.
Unterkühlte Distanz
Ehrlich erzählt davon mit einer unterkühlten Distanz, die an Filme von Christopher Nolan denken lässt. Dass sich die aufgegriffenen Handlungsstränge wohl kaum zu einem schlüssigen Ganzen fügen werden, ist früh zu erahnen. Statt eines leicht fassbaren Plots wird lediglich eine rätselhafte, bisweilen verstörende Zustandsbeschreibung dargeboten. Wer damit nicht zurecht kommt, sei ausdrücklich gewarnt: Das hier ist nichts zum Mitfiebern und Herzerwärmen!
Wer jedoch bereit ist, sich auf den nüchternen Forscherblick einzulassen, mit dem dieser Roman den Untergang im Weltmeer betrachtet, dem erschließt sich mancher herrlich ironische Kommentar auf die Mechanismen unserer Medien- und Unterhaltungskultur.
Dann taucht inmitten der morbiden Szenerie eine Dokumentarfilmerin aus Baltimore auf, um unter dem betont anspruchsvoll wirkenden Etikett eines „filmischen Essays“ schamlos das Schicksal der toten Schauspielerin auszuschlachten. Die Untergangs-Ästhetik der gefluteten Stadt verspricht ihr dabei einen ganz besonderen Kick: Am Ende soll eine Mischung aus Lady-Di-Voyeurismus und Tschernobyl-Grusel stehen.
Karikatur unserer Zeit
Wunderbar verstörend ist auch, wenn der Vater ebendieser verstorbenen Schauspielerin einen Inselarzt aufsucht, um mehr über das Geschehene zu erfahren – zur Antwort aber bloß die von westlichen Touristen so begehrte Mischung aus schamanischen und esoterischen Trauerstrategien zu hören bekommt. Im Wartezimmer muss er sich der penetranten Nachfragen eines prominenten Mitpatienten erwehren. Es handelt sich um den griechischen Poker-Profi Angelos Apostolakis – noch so eine Karikatur unserer Zeit.
Der „griechische Poker-Profi“, der „verzweifelte Vater“, die „amerikanische Literaturwissenschaftlerin“: Das ständige Repetieren dieser attributiven Klischees verleiht den Figuren etwas Comic-haftes. Aus dem Munde des kühl distanzierten Erzählers wirken sie boshaft, bisweilen gar höhnisch.
Es scheint, als habe der Ozean nicht ohne Grund ausgerechnet sie wie Treibgut auf die untergehende Insel angeschwemmt: als Botschafter einer Spezies, die sich mit Eitelkeiten und Egoismen selbst ihrer Zukunft beraubt hat. Und die jetzt im Angesicht des steigenden Meeresspiegels noch eine letzte Vorstellung gibt. War auch ihre Vorstellung bis dahin eine fürchterliche Geschichte: Aus der Zugabe hat Roman Ehrlich eine fordernde, aber großartige, tiefschwarze Tragikomödie komponiert.