Gendersternchen, Binnenmajuskel, Partizipformen: Unsere Sprache ist Schauplatz eines Kulturkampfs geworden. Es geht um nichts weniger als das Ideal einer absoluten Gerechtigkeit. Über eine von Geschlechtszuschreibungen weitgehend bereinigte Sprache soll es endlich gelingen, den alten Menschheitstraum zu verwirklichen: den Traum von einer Gesellschaft ohne Benachteiligung aufgrund von Herkunft, Aussehen oder Geschlechtszugehörigkeit.

Sprechen ohne Benachteiligung?

Über das Ziel sind sich viele einig, der Weg jedoch ist umstritten. Was den einen als Fortschritt gilt, ist für andere ein Angriff auf Sprachästhetik und Verständlichkeit. Wo jene Unterschiede abbauen wollen, nehmen diese das Entstehen neuer, umso größerer Ungerechtigkeiten wahr. Hängt Gleichberechtigung wirklich an der Nutzung genderneutraler Pronomen? Ist Sprechen ohne jede Benachteiligung einzelner Gesellschaftsgruppen überhaupt möglich?

Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie die ihnen zugrunde liegenden Forschungsmethoden, die von psycho- über sozio- bis zu systemlinguistischen Ansätzen reichen. Eine Spur führt in die Sprachgeschichte der Naturvölker, zu jenen Gemeinschaften, deren Sprache entweder schon verschwunden oder vom Aussterben bedroht ist.

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Der „Atlas der verlorenen Sprachen“ (Duden-Verlag) stellt uns zum Beispiel den im afrikanischen Mali beheimateten Stamm der Supyire vor. Statt nur drei Geschlechtern – Femininum, Maskulinum, Neutrum – kennt man dort gleich derer fünf. Eine männliche Form ist darunter jedoch ebenso wenig zu finden wie eine weibliche. Stattdessen gilt ein Genus für alle Menschen, ganz gleich welcher biologischen Prägung. Die anderen vier Geschlechter bezeichnen große Dinge, kleine Dinge, Kollektive und Flüssigkeiten.

Große und kleine Dinge

Ist damit also der politischen Korrektheit genüge getan? Weit gefehlt! Tiere etwa teilen die Supyire je nach körperlicher Beschaffenheit in die beiden Kategorien „große Dinge“ und „kleine Dinge“ auf: Giraffen gelten als großes Ding, Käfer als kleines. Nähmen wir uns an ihnen ein Beispiel, wäre zwar das Problem der Ungleichbehandlung anhand von Geschlechtsunterschieden gelöst. Dafür gingen wohl die Tierschützer auf die Barrikaden: Lebewesen als Sachen bezeichnen, das geht gar nicht!

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Die weitaus brisantere Nachricht allerdings besteht nicht etwa in derlei verbleibenden Ungerechtigkeiten auf sprachlicher Ebene, sondern in der Stellung der Frau. Um diese nämlich ist es – genderneutrales Sprechen hin oder her – denkbar schlecht bestellt. Beschneidungen gehören ebenso zur Tradition wie sogenannte Schwager-Ehen (die Weiterreichung einer Witwe an den Bruder des Verstorbenen). Wer also zur Annahme neigt, wo genderneutral gesprochen werde, müsse auch Gleichberechtigung herrschen, wird in Mali eines Besseren belehrt.

Auch die Verständigungspraxis der in Südkanada lebenden Nuu-cha-Nulth-Indianer erscheint fragwürdig, sofern man sie an unseren aktuell geltenden Wertenormen bemisst. Die Sprache ist stark vom Aussterben bedroht, kaum mehr als 130 Menschen sind ihrer noch mächtig. Wie diese mit ihrem Gegenüber kommunizieren, hängt ganz wesentlich von dessen körperlichen Merkmalen ab. Ist er beispielsweise von korpulenter Statur, so wird dieser Umstand zwingend durch die Einfügung der Silbe „-ag‘“ thematisiert. „Ha‘ókwag‘ma“, heißt es dann: „Er, der Dicke, isst.“ Gleiches widerfährt Menschen mit Augenleiden, Kleinwüchsigen oder auch Linkshändern. Keine Frage: Wollten Nuu-cha-Nulth-Indianer jeden Anflug von Diskriminierung aus ihrer Sprache tilgen, hätten sie einiges zu tun.

Multikulturelle Wurzeln

Unserem Ideal einer gerechten Sprache am nächsten kommen dagegen jene knapp 40.000 Menschen des in Mittelamerika beheimateten Stamms der Garinagu. Bemerkenswert sind ihre multikulturellen Wurzeln: Handelt es sich doch bei den Garinagu um Nachkommen von schwarzafrikanischen Sklaven, die im 17. Jahrhundert von zwei gestrandeten Schiffen auf die Insel St. Vincent flüchten konnten. Dort mischten sie sich mit der karibischen Bevölkerung.

Im Gegensatz zu den hiesigen Bemühungen um Geschlechterneutralität erhebt ihre Sprache „Garifuna“ die Unterscheidung zwischen männlich und weiblich sogar zum Grundprinzip jedes Sprech-Akts. So hängt der Klang des Wortes „Nein“ davon ab, wer es ausspricht: Männliche Personen sagen „inó“, weibliche dagegen „uá“. Das Wort „gestern“ wird mit „würinauga“ übersetzt – allerdings nur, wenn es von einer Frau ausgesprochen wird. Andernfalls heißt es „gúnaru“. Männer und Frauen: Bei den Garinagu sprechen sie in weiten Teilen buchstäblich zwei verschiedene Sprachen. „Genderlect“ nennen Linguisten dieses Phänomen.

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Für Befürworter von Genderneutralität dürfte das wie ein einziger Albtraum erscheinen. In Wahrheit jedoch ist der „Genderlect“ dieses Volkes Ausdruck einer weitgehend gleichberechtigten Lebenswirklichkeit. Die Garinagu orientieren sich in der Erbfolge nicht an der väterlichen, sondern an der mütterlichen Linie. Ihre oberste Gottheit ist weiblich. Und statt geschlechtsabhängige Privilegien zu verteidigen, versichern sie sich in Liedern und Tänzen regelmäßig gegenseitiger Wertschätzung.

Ist das Garifuna also ein Paradies der Chancengleichheit? Nun ja, Menschen des dritten Geschlechts dürften in einer Gesellschaft, die sich so extrem aus der Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Identitäten definiert, kaum glücklich werden. Jedem gerecht werden, niemanden ausgrenzen: Dieses hehre Ziel hat offenbar noch keine Sprache zu erreichen vermocht.