Wenn eine Familie mehr ist als nur die Brutstätte von Neurosen, so verdankt sich das nicht selten einem einzigen Menschen. Gemeint ist jenes Familienmitglied, das seine eigenen Ansprüche und Eitelkeiten hintenanstellt, damit aus dem wilden Haufen von Individuen so etwas wie eine Gemeinschaft entstehen kann. Fast jeder kennt in seiner Familie eine solche Person. Fast immer handelt es sich dabei um eine Frau, und sehr oft ist es die Mutter.

Wo jeder jeden kennt

Was geschieht, wenn diese tragende Säule einfach wegbricht? Wenn die Egomanen und Exzentriker plötzlich selbst klarkommen müssen mit den Mikroproblemen und eitlen Befindlichkeiten ihre Alltags? Der österreichische Autor Dominik Barta wagt in seinem Romandebüt „Vom Land“ (Zsolnay Verlag) dieses Gedankenexperiment dort, wo es am meisten weh tut: In der Provinz kennt jeder jeden, hier ist man noch aufeinander angewiesen, obwohl man doch so gerne sich selbst verwirklichen würde.

Das könnte Sie auch interessieren

Die Landwirtin Theresa geht aufs Rentenalter zu. Ihre drei Kinder haben sich von ihren Wurzeln längst losgesagt, in Richtung Großstadt der eine, zur Geschäftswelt der andere. Und die Tochter lässt sich bloß noch blicken, um ihren Sohn bei Oma zu parken.

Es ist eine anstrengende Zeit gewesen, die kindlichen Bedürfnisse mit dem Leben auf dem Bauernhof zu vereinen. Den Anforderungen einer modernen Freizeitgesellschaft mit Computerspielen, schicken Kleidern und Fußballverein gerecht zu werden, ohne den Hof dabei zu vernachlässigen. Über Liebeskummer und Schulprobleme hinwegzuhelfen und dabei stets den Spott zu ertragen, darüber, wie rückständig doch die Lebensweise der Alten sei!

Harte Arbeit statt Liebe

Ihr eigener Liebeskummer wurde von niemandem gestillt. Die Ehe mit Erwin hielt seit 40 Jahren – weil es sich so gehörte. Eine perfekte Symbiose seien sie, findet Erwin: „Man konnte den einen nicht mehr vom anderen trennen, ohne beide zu zerstören.“ Doch das lag nicht an der Liebe. Sondern an der harten Arbeit, die sich nur zu zweit bewältigen ließ.

Das könnte Sie auch interessieren

Jetzt gibt Theresa auf, legt sich aufs Sofa und rührt sich nicht mehr. Einfach so. Rosalie, die Tochter, kann es nicht fassen: „In dreißig Jahren habe ich dich nicht mit dem kleinsten Wehwehchen gesehen, und jetzt hat es dich so arg erwischt, dass du nicht einmal den Mund aufmachen kannst?“ Wer soll denn jetzt auf den kleinen Daniel aufpassen, wenn sie nach Linz zum Friseurtermin fahren will?

Auch Erwin ist schwer irritiert. Seit drei Tagen schon muss er kalt zu Abend essen. „Ich brauche dich doch!“, ruft er ihr zu.

Angestaute Aggressionen

Während Theresa erst zum Dorfarzt und dann zum Heiler geschleift wird, entladen sich im Familienverbund lange angestaute Aggressionen. Rosalies Ehemann, der Tischlermeister Fridolin, hat die ständigen Belehrungen seiner Frau satt und treibt es mit der vernachlässigten Doris Rainer.

Die freilich – wir befinden uns auf dem Dorf – ist ausgerechnet mit Fridolins verhasstem Schwager verheiratet, dem arroganten Geschäftsmann Max. Und wie es sich für die Provinz gehört, bleibt die Affäre nicht lange geheim. Schuld an allem sind irgendwie die syrischen Flüchtlinge, die seit Neuestem ja alles nachgeworfen bekommen.

Das könnte Sie auch interessieren

Was bei alledem der kleine Daniel so treibt, scheint die ränkesüchtigen Erwachsenen nur am Rande zu interessieren. Klug genug, dem Wahnsinn zu entfliehen, vertreibt er sich seine Zeit mit dem syrischen Flüchtlingsjungen Toti beim Bau eines Baumhauses im Wald. Dort erfährt er von dem fremden Kind Erstaunliches. Mit Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins gut auszukommen sei sehr wichtig, auch wenn sie noch so schwierige Charakterzüge haben. Denn: „Wo wären wir ohne Familie?“

Die um sich selbst kreisen

Im Unterschied zu den um sich selbst kreisenden Einheimischen lässt sich Toti nur dann aus der Ruhe bringen, wenn eine Beleidigung der Verwandtschaft gilt. Als er das Wort „Hurensohn“ hört, fühlt er nicht sich getroffen, sondern seine Mutter – einem Max oder Fridolin wäre diese Interpretation wohl kaum eingefallen.

Dominik Barta beschreibt in den Einheimischen seines fiktiven Dorfes Figuren, die in der Kluft zwischen ihren eigenen Ansprüchen und der schnöden Wirklichkeit förmlich zu ersticken drohen. So lustvoll er damit sein explosives Beziehungsgemisch anrührt, so leicht lässt er sich dazu hinreißen, die allgegenwärtige Eitelkeit gerade der mittleren Generation allzu widerspruchsfrei zur Schau zu stellen. Wenn schließlich der mürrische, alte Erwin in Theresas Abwesenheit eine Läuterung vollzieht und als empathischer Großvater sogar das Flüchtlingskind Toti zu schätzen lernt, meint man in dieser Schwarzweißzeichnung auch noch die rosarote Färbung des Kitschs erahnen zu können.

Dominik Barta: „Vom Land“, Roman, Zsolnay: Wien 2020; 176 Seiten, 18 Euro.
Dominik Barta: „Vom Land“, Roman, Zsolnay: Wien 2020; 176 Seiten, 18 Euro. | Bild: Cover

Und doch, indem der Autor ausgerechnet seine eigentliche Hauptfigur beinahe ganz aus dem Roman herausnimmt und das übrige Personal in seiner ganzen Lächerlichkeit um die plötzlich leer bleibende Mitte herumtanzen lässt, gelingt ihm ein wenigstens unterhaltsames Sittengemälde unserer Zeit: einer Gegenwart, in der das Versprechen der Selbstverwirklichung sich mehr und mehr als Drohung entpuppt.