Herr Stiefel, Sie waren früher Kripochef und Leitender Kriminaldirektor mit Stationen von Singen bis Sigmaringen. Seit einigen Jahren schon pflegen Sie ein Hobby, das für einen Polizisten ungewöhnlich ist: Sie schreiben Literatur. Nun legen Sie mit ihrem neuen Buch „Soko Hegau“ einen Krimi vor. Wie kamen Sie dazu?

Ich hätte mir das nie zugetraut, wenn meine Familiengeschichte nicht den Anlass gegeben hätte. In meiner Familie ereigneten sich zwei Morde. Ein Mordopfer war mein Urgroßvater Friedrich, in dessen Folge seine Familie in die Armut getrieben wurde.

Das andere Opfer war der Großvater von Friedrich. Diese zwei Morde waren in meiner Familie nicht mehr präsent. Ich machte mir die Mühe und brachte diese furchtbaren Geschehen wieder ans Licht. Das waren unterm Strich fünf Jahre Arbeit, bis nur die Fakten beieinander waren.

Dann ist Ihr Schreiben mehr als Hobby. Sie arbeiten an ihrer Biografie, sie holen eine Sozialgeschichte auf der Schwäbischen Alb am Beispiel Ihrer Ahnin in die Literatur hinein.

Das erwähnte Buch heißt „Stiefels Stein“. Es hat den Zollernalbkreis und speziell das Gebiet Hohenzollern-Hechingen, wo die Geschichte verortet ist, stark bewegt. Dort wurde ich zu vielen Lesungen eingeladen und hatte mehrmals weit über 100 Zuhörerinnen und Zuhörer. 2003/2004 durchlebte ich eine belastende Zeit. Auch das verstärkte mein Interesse an der Urfamilie. Als studierter Historiker besaß ich das Handwerkszeug für Nachforschungen.

Was bedeutet diese Geschichte für Sie?

Es war unglaublich beeindruckend zu sehen, was meine Urgroßmutter mit sage und schreibe zwölf Kindern erleben musste. Unser Hof in Hermannsdorf wurde zwangsversteigert. Meine Urgroßmutter, eben verwitwet, wurde mit ihren Kindern auf die Straße gesetzt. Zwei Aktenordner voll Material habe ich dazu gesammelt, immer neben der Arbeit als Polizist.

Wie schafften sie das?

Diese Arbeit machte ich vor allem im Urlaub und an dienstfeien Tagen. Wer in Archive geht, braucht Zeit.

Sie bezeichnen sich als Historiker mit dem Abschluss Magister Artium. Wie passt das zu einem Polizisten ?

Ich wollte immer Polizist sein. Aber Studieren war mir auch wichtig. Also machte ich beides, ich schrieb mich an der Fernuniversität Hagen ein. Es dauerte 13 Jahre, dann hatte ich es geschafft.

Für einen Kriminaldirektor ist Ihr Werdegang ungewöhnlich.

Menschen sind unterschiedlich, Gottseidank.

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Der ehemalige Kripochef schreibt einen Krimi. Von Berufs wegen müssten sie jemand sein, der das Verbrechen verabscheut. Und nun verfassen sie begeistert Texte, in denen Mord und Totschlag ausgebreitet werden. Ist das nicht unmoralisch?

Das ist eine schwere Frage. Mir geht es zunächst ums Erzählen, um das Verarbeiten dessen, was Menschen anderen Menschen antun. Meine beiden ersten Bücher zeigten mir, dass ich Schreiben kann. Es läuft, die Sätze passen zueinander. Und ich sah: Was du schreibst, liest sich ganz ordentlich.

Und noch etwas: Die Welt des Krimis war für mich neu – und doch unheimlich vertraut. Im Gegensatz zu anderen Autoren weiß ich genau, wie ein Tatort aussieht. Ich weiß, wie man rangeht. Es wäre dann unmoralisch für mich, wenn ich tatsächlich passierte Morde und Mordopfer zur Schau stellen würde. Das tue ich nicht. Es gibt Parallelen zu tatsächlich geschehenen Taten, mehr nicht. Der Fall in meinem Roman „Soko Hegau“ ist frei erfunden.

Warum haben Sie Singen als Schauplatz gewählt ?

In Singen hatte ich meine schwersten Kriminalfälle. Deshalb habe ich mit dem ersten Roman und dem Kripochef Karl Grimm dort angefangen.

Sie lesen auch die Werke von Kollegen, die sich im Krimi tummeln. Bereitet Ihnen das noch Lesevergnügen, wenn Sie dann Unbeholfenheit in den Fakten und in ermittlungstechnischen Details feststellen?

Das stört mich nicht. Wenn ein Krimi schlecht gemacht ist, dann lege ich ihn nach spätestens 20 Seiten weg.

Dann schauen Sie sicherlich jeden „Tatort“ am Sonntagabend?

Nein.

Warum nicht?

In meinem Leben schaute ich in genug Abgründe. Ich brauche das nicht mehr. Zum Zweiten haben die Drehbücher der meisten „Tatort“-Folgen mit der Realität wenig zu tun. Da gibt es ein Verbrechen und zwei Kommissare ermitteln. So läuft es in der Realität halt nicht. In meinem Roman ermittelt eine Soko – eine Sonderkommission mit 40 bis 50 Mann. Drei Teams aus dieser Soko hebe ich heraus.

Aber den „Tatort“ aus Münster schauen Sie schon? Als Fortbildung gewissermaßen …

… den sehe ich mir ab und zu an. Die beiden Typen und die wunderbaren Dialoge zwischen Beiden sind klasse.

Ein Wort zum inzwischen abgesetzten Bodensee-Tatort?

Diese Folgen sah ich mir an. Zum einen weil wir Eva Mattes, die darin die Kommissarin spielt und das Filmteam unterstützt haben. Und weil ich es als Teil meiner Aufgabe als Kripochef sah.

Wer heute im Fernsehprogramm blättert, kann an jedem Tag einen „Tatort“ schauen. Der Sonntag ist nicht mehr alleiniger „Tatort“-Tag. Wir sitzen in warmen, gut gesicherten Wohnzimmern, in verriegelten Häusern und schauen uns fremde, möglichst raffiniert angerichtete Morde an. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Menschen schauen gerne in einem gesicherten Raum in fremde Abgründe. Das ist auch eine Form von Voyeurismus, den ich aber nicht verurteile. Exzesse, die künstlicher Natur sind, werden als angenehmer Nervenkitzel empfunden.

Warum nicht? Ich glaube an Gott. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass in jedem Menschen das Gute und das Böse steckt. Wir sind nicht immer nur gut. Es steckt im Menschen drin, dass er Böses begehen kann – auch gute Menschen führen sich das Böse vor Augen. Das ist so seit der Vertreibung aus dem Paradies.

Gerd Stiefel: „Soko Hegau“, Gmeiner Verlag 2023; 316 Seiten, 16 Euro.
Gerd Stiefel: „Soko Hegau“, Gmeiner Verlag 2023; 316 Seiten, 16 Euro. | Bild: Gmeiner Verlag

Es gibt die Theorie, nach denen jeder zu einem Mord fähig ist, wenn man ihn nur in entsprechende Umstände treibt.

Das trifft zum Teil zu und dafür gibt es genug Beispiele. Denken Sie an das Polizeibataillon 101 in Hamburg während des 3. Reiches. Dessen Mitglieder schossen wahllos auf Frauen und Kinder und versuchten ihr Tun zu rechtfertigen. Einen Mord traue ich trotzdem nicht jedem Menschen zu.

Im Menschen gibt es eine innere Hemmschwelle. Die ist nicht bei Jedem gleich und sicher auch abhängig von der Sozialisation und von der jeweiligen Persönlichkeit. Ich wäre, wie viele andere Menschen nicht in der Lage, einen Menschen zu töten. Es sei denn ich wäre dienstlich in Notwehr um Leben dazu gezwungen gewesen.

Haben Sie eine Waffe im Haus?

Ich hatte eine Waffe, aber nicht im Haus. Heute habe ich keine mehr und ich vermisse sie auch nicht.

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Schreiben ist auch ein Handwerk. Wie haben Sie das gelernt?

Ganz einfach, ich habe viel gelesen und lese noch immer viel. Das war die beste Schule. In meiner Kindheit waren es Indianerbücher und Karl May, dann kam anspruchsvollere Literatur dazu.

Auch bei der Polizei war stets viel zu schreiben, aber das war natürlich ein anderer Stil – der Stil des nüchternen Protokolls. Das Literarische hat sich unabhängig davon aufgebaut über all die Jahre. Schreiben muss spannend sein, es muss unterhalten.

Haben Sie auch Vorbilder, an denen Sie sich orientieren?

Dan Brown gefällt mir gut, seine Thriller sind überzeugend konstruiert, vor allem die Trilogie um Professor Langdon. Oder Donna Leon. Bei ihr kann man lernen, wie wichtig der Ort ist. In meinem Hegau-Krimi findet man die Orte buchstäblich wieder – vom Café Hanser bis zum Revier in der Julius-Bührer-Straße. Nur der Tatort ist erfunden.