Juristen stellt man sich gerne als reine Paragrafenmenschen vor. Sie sitzen dem Gericht vor oder sie hauen als Anwälte einen Mandanten heraus. In Ihrer Freizeit spielen sie Golf und bieten ihrer Gattin ein schönes Heim. Wenn einer dieses herzhaft schräge Vorurteil durchbricht, dann Gerhard Zahner. Der 64-Jährige befasst sich als Strafverteidiger und dort vor allem mit Drogendelikten. Zuletzt verteidigte er im Prozess um die Singener Messerattacke und im Dauchinger Mordprozess.

Und Zahner ist Literat, Heimatmensch und schreibt Theaterstücke, von denen einige kräftig einschlugen. Er liebt nicht nur die Öffentlichkeit, er stellt sie erst her mit Stücken, die auf den Putz hauen, genauer gesagt: Seine Stücke schlagen erst den Putz von der hellen Fassade herunter, hinter der die bösen Geister der Vergangenheit lauern.

Da sitzt jeder Satz

Wir treffen uns in seiner Kanzlei in Konstanz. Ein heller Raum, in dem er und seine Kollegen sonst Klienten beraten, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Zahner sitzt da, ein großer Mann mit Mittelscheitel, von dem volles graues Haar in Strähnen wild herunterfließt. Erster Eindruck: ein ungestümer Typ und schwer zu durchschauen. Er hört konzentriert zu. Er antwortet druckreif mit der Neigung zur Sentenz – eine Lebensweisheit in einem Satz ohne Revisionsrecht. Vielleicht packen nur Juristen solche Sätze. Selten blitzen seine Augen auf, meist sind sie zu zwei schmalen Schlitzen verengt, denen nichts zu entgehen scheint.

Zahner, Jahrgang 1957, stammt aus Singen. Das ist wichtig, denn viele seiner Themen zieht aus er aus dieser Arbeiter- und Industriestadt, aus dem nahen Hegau mit seiner abgründigen Idylle. Zahners Erzählungen setzen immer lokal an. „Ort“ ist eines der häufigsten Worte, das er verwendet (und er sagt erfreulicherweise nie „Location“).

Früher hätte man ihn als Heimatforscher oder Heimatdichter bezeichnet; das klingt in international aufgewühlter Zeit beschränkt, ist es aber nicht: Er sucht und findet die Spuren von unscheinbaren Menschen in seiner Umgebung. Zahner stößt auf längst vergessene Morde. Er hebt Randgruppen ans Licht, die sonst nur Fachleuten bekannt sind und in deren Fußnoten existieren. Auch mit anderen Forschern arbeitet er zusammen – wie in Singen mit Wilhelm Waibel, dem akribischen Spurenleser des 20. Jahrhunderts in Singen.

„Die Zeitung hält eine Stadt zusammen“

Seine Neugier für den eigenen Ort entwickelte er als Schüler. Im Gespräch legt er die eine überraschende Wurzel offen: Teile seines Jurastudiums in Freiburg finanzierte er durch Artikel, die er für den SÜDKURIER und das Singener Wochenblatt schrieb. Die Begeisterung fürs Lokale hat ihn nie verlassen. „Unsere Städte, ja selbst die Dörfer werden immer einförmiger. Es ist die Lokalzeitung, die alles unter ein gemeinsames Dach packt. Die Zeitung vor Ort hält eine Stadt zusammen, niemand sonst.“

Dem Prinzip der Graswurzel und des Kleinräumigen bleibt er treu. Seine Theaterstücke, die ihn bekannt machten, gründen alle im badischen Raum. In seinem Stück „Die Reis“ erinnert er zum Beispiel an die Jenischen – große Familien, die seit dem Dreißigjährigen Krieg als Fahrende unterwegs sind und sich durch Gelegenheitsarbeiten ernähren.

Die Stadt am Hohentwiel beherbergt bis heute einen Treffpunkt der Jenischen, die von den Sesshaften oft skeptisch beäugt wurden. Das war ein Stoff, den bisher noch niemand aufgegriffen hatte, weil sich keiner dafür interessierte. Bis der Zahner kam.

Ein Professor vor dem Fall

Bundesweite Aufmerksamkeit erregte ein Theaterstück, das die Karriere des Romanisten Hans Robert Jauß unter die Lupe nahm – „Die Liste der Unerwünschten.“ In jungen Jahren diente Jauß als SS-Offizier, war vom NS-Staat überzeugt, seine Kompanie war nachweislich an Kriegsverbrechen beteiligt. Nach dem Krieg legte der kluge Mann und Feingeist eine Karriere als Professor hin. Viele seiner Kollegen wussten das oder sie munkelten über das braune Vorleben des berühmten Jauß.

Zahner brachte diesen Werdegang in eine dramatische Form. Das Stück wurde an der Universität Konstanz als originalem Schauplatz aufgeführt. Empörte Alt-Rektoren, aufgebrachte Kollegen, begeistertes Feuilleton. Zahners Motiv: „Ich will öffentlichen Raum schaffen“.

Der Vorgang ist typisch für den Provokateur und Moralisten Zahner: Er zieht den Teppich weg, unter dem ganze Vergangenheiten versteckt werden. Und er arbeitet stets lokal. Er schaut vor die Haustür, und das genügt.

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Gerd Zahner ist überzeugter Linker. Er steht in der Tradition kritischer Aufklärer mit ausgeprägter Liebe zur Provinz. Der linke Intellektuelle ist ein Typ, der in der aktuellen Debatte rar geworden ist. Zahner verkörpert ihn, unbeugsam wie ein verwitterter Baum, den der Wind nicht umhaut. Eines seiner großen Vorbilder heißt Thomas Bernhard, der geniale Eigenbrötler aus Österreich. Ein anderes ist der Denker Walter Benjamin.

Zahner wurde durch das Charisma eines Willy Brandt für die SPD und den bereits gemäßigten Sozialismus begeistert. Stolz holt Zahner während unseres Gesprächs ein Schwarz-Weiß-Foto hervor. Es zeigt Brandt, der mit geschlossenen Augen einem Mann mit Hut zuhört. Dieser ist Joseph Beuys – der später zu den Grünen gehen sollte.

Schreiben ist wie Urlaub

Theaterstücke oder Krimis (Goster-Reihe) verfasst man nicht nebenher. Es bedarf der Recherche, dem Schreiben, Verwerfen, Überarbeiten. Dazu kommt die Korrespondenz mit Bühnen wie der Gems in Singen, den Regisseuren und Verlegern.

Wie schafft er das? „Ich schreibe im Urlaub“, sagt er, das mache ihn unendlich zufrieden. „Den letzten echten Urlaub genoss ich als Student im zweiten Semester“, sagt er lachend. Lange her. Seitdem taucht er ins Schreiben ab, sobald er sich selbst eine Freizeit genehmigt. Wer ihn deshalb bedauert, wäre an der falschen Adresse. „Ich habe die Balance zwischen Brotberuf und Literatur gefunden“, sagt er, „das ist meine Lebenszufriedenheit.“

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Auf Golfplätzen kann man sich diesen Mann kaum vorstellen. Er schwärmt auch nicht von Fernreisen, sein Begriff von Glück geht nicht nach der Anzahl der Sterne, die sein Urlaubshotel auf der Homepage hat. Schreiben ist für ihn eine gesteigerte Form von Leben. Nur ein Reiseziel geht ihm im Kopf herum: „Ich will unbedingt nach Jerusalem“, räumt er ein. Das Zusammentreffen verschiedener Kulturen und Religionen reizt ihn. In diesem Jahr wird er 65 Jahre alt, das wäre ein Anlass für einen Besuch der verrücktesten Stadt der Welt.

Auf den Ruhestand will er nicht warten, da es diesen nicht geben wird. Dieser Strafverteidiger geht ebenso wenig in Rente wie der literarische Unruhestifter. Vor wenigen Wochen wurden ihm zwei Stents in die Herzkranzgefäße gesetzt. Das gibt ihm zu denken. „Da hat jemand von außen mit dem großen Zeigefinger an mein Leben geklopft“, sagt er. Aber deshalb aufhören?