In dem Augenblick, in dem er schreibt, meinte Martin Walser einmal, sei er unsterblich. An Selbstbewusstsein mangelte es dem „Romantiker vom Bodensee“ (J. Hieber), mittlerweile 95 Jahre alt, nie, auch wenn er die Auffassung vertrat, dass Erfahrungen nur als Verlierer zu machen seien.

Um endgültig unsterblich zu sein, dafür sorgte er noch auf einem anderen Feld: Walser hat seinen Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach/Neckar überlassen, was in seiner Anwesenheit in einem Festakt gefeiert wurde. Schriftsteller, deren Werke in diesem „unterirdischen Himmel“ (M. Walser) landen, also in den Katakomben und Kästen des Archivs, können sich des Ruhms gewiss sein. Walser gehört schon zu Lebzeiten dazu. In seiner Nachbarschaft liegt nicht nur der Nachlass seines Kollegen Franz Kafka, sondern auch der seines ewigen Freund-Feindes Marcel Reich-Ranicki, dem er in seinem Roman „Tod eines Kritikers“ ein (umstrittenes) Denkmal setzte.

Bereits 2007 kamen erste Dokumente und Materialien nach Marbach. Aber erst in diesem Frühjahr wurde über den großen Rest erfolgreich verhandelt. Über die Kaufsumme, die nur mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Bundesbeauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, des deutschen Sparkassen- und Giroverbandes und der Sparkassen Finanzgruppe Baden-Württemberg sowie des Zweckverbands Oberschwäbische Elektrizitätswerke aufgebracht werden konnte, wurde Stillschweigen vereinbart.

Sandra Richter, Leiterin des Marbacher Literaturarchivs, begrüßt Martin Walser am Sonntag.
Sandra Richter, Leiterin des Marbacher Literaturarchivs, begrüßt Martin Walser am Sonntag. | Bild: Christoph Schmidt

Das Konvolut umfasst gut 75.000 handschriftliche Seiten, darunter sind Manuskripte, Entwürfe seiner Werke, aber auch viele Fotos, Briefwechsel mit seinem früheren Verleger Siegfried Unseld, mit Heinrich Böll, Uwe Johnson oder Ingeborg Bachmann. Dazu gehört aber auch Walsers Arbeitsbibliothek, die nahezu 8000 Bände umfasst und die 75 Tagebücher.

Bisher wurden nur Auszüge aus den seit 1958 geführten Tagebüchern Walsers veröffentlicht, die viel Privates enthalten, ja Intimes, aber auch Aphorismen, Exzerpte, Romanentwürfe oder protokollartige Notizen, so etwa die Beschreibung einer Party an einer amerikanischen Universität, die später Eingang findet in dem Roman „Brandung“.

Diarium im Zug vergessen

Ein Diarium, in rotes Leinen gebunden, fehlt allerdings. Walser hatte es beim Aussteigen aus dem Zug von Innsbruck nach Friedrichshafen im September 2013 liegen lassen. Walser hat zudem Materialien zu realen Personen aufbewahrt, die er für seine Romane „Finks Krieg“ und „Die Verteidigung der Kindheit“ verwendet hatte.

Die ersten Redner des unter dem Walser-Satz „Die Welt wie ein Beerenfeld leer essen“ stehenden Festakts, Sandra Richter, Direktorin des Literaturarchivs Marbach, Petra Olschowski, Staatssekretärin für Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung, wurden daher nicht müde, die Bedeutung des „streitbaren Chronisten der Bundesrepublik und ihrer Gesellschaft, in deren Geschichte er sich selbst früh eingeschrieben hat“ (S. Richter) zu betonen, ebenso den hohen Stellenwert des Vorlasses für die Forschung.

Sie lasen aus Martin Walsers Werken: Edgar Selge, seine Frau Franziska Walser und Jakob Walser.
Sie lasen aus Martin Walsers Werken: Edgar Selge, seine Frau Franziska Walser und Jakob Walser. | Bild: Kopitzki, Siegmund

Es ist in der Tat ein titanisches Werk, das Walser in bald sieben Jahrzehnten geschaffen hat. Das erste Buch publizierte er 1955, „Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten“. Der letzte Titel erschien im Frühjahr 2022, sein „Traumbuch. Postkarten aus dem Schlaf“ mit kongenialen Bildern der Berliner Künstlerin Cornelia Schleime, die aktuell im Foyer des Literaturarchivs zu besichtigen sind.

Alexander Fest hatte die Auswahl der Traumtexte besorgt, die Einblicke in das Innenleben Walsers geben. Der Verlegerfreund war beim Festakt anwesend. Er saß, immerzu strahlend, neben dem vom Alter gezeichneten Patron, der die Veranstaltung – Walser sprach von „Theater“ – bei sommerlicher Schwüle tapfer vom Rollstuhl aus verfolgte.

Martin Walser beim Festakt im Deutschen Literaturarchiv.
Martin Walser beim Festakt im Deutschen Literaturarchiv. | Bild: Kopitzki, Siegmund

Älterwerden ist leichter als alt sein, sagte er einmal ernüchtert. Vielleicht war es sein letzter großer öffentlicher Auftritt, den er nach dem gescheiterten Versuch, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen, mit Signieren seiner Bücher beendete. Darauf schienen aber auch einige Gäste der Veranstaltung spekuliert zu haben, die sich gleich mit mehreren Bänden in die Schlange stellten.

Aber auch die Familie, Walsers Frau Käthe, die Töchter Theresia (mit Mann Karl Heinz Ott), Alissa (mit Lebenspartner Sasha Anderson), Johanna sowie Franziska (mit Gatten Edgar Selge und Sohn Jakob), ließ es sich nicht nehmen, bei dem Festakt dabei zu sein.

Etliche Freunde waren zugegen, so etwa der frühere Direktor des Literaturarchivs Ulrich Ott – der Ruheständler lebt auf der Höri; den Bodenseekreis vertrat Landrat Lothar Wölfle. Schwiegersohn Selge, Tochter Franziska und Enkel Jakob, alle drei stimmgewaltige Schauspieler, lasen aus einigen Texten und so eine Ur-Idee seines Schreibens in Erinnerung: Etwas schöner sagen, als es in Wirklichkeit ist.

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Das Literaturarchiv Marbach plant für 2027 – zum 100. Geburtstag Walsers – eine große Ausstellung. Bis dahin soll die aufregende Fülle geordnet sein. Einen Eindruck vom Inhalt des Vorlasses gaben beim Festakt die Archiv-Mitarbeiter Dorit Krusche und Ulrich von Bülow.

Zum Schatz gehören schlichte Quittungen – für einen 1949 ausgestrahlten Rundfunkbeitrag erhielt der Reporter Walser ganze 25 Mark – ebenso wie das handgeschriebene Manuskript seiner zweifach verfilmten Erfolgsnovelle „Ein fliehendes Pferd“, zu dem Suhrkamp-Verleger Unseld einige Verbesserungsvorschläge machte, die Walser brav einarbeitete. Unselds kurze Replik dazu: „Ich gratuliere Dir und mir und uns“.