An dieser Frau ist alles ungewöhnlich, also fast alles. Ihre hellgrün schimmernden Augen fixieren den Besucher genau, ihr blass geschminktes Gesicht wird von feuerrotem Haar eingerahmt. Sie trägt gerne Schwarz und hat den federnden Gang einer jungen Frau.

Ihre 72 Jahre sieht man ihr nicht an. Und da ist noch der Name: Alraune nennt sich die Aktionskünstlerin. Alraune wie die Pflanze. Ihren bürgerlichen Namen Stefanie Siebert hat sie abgelegt. Der klingt dann doch zu sehr nach Plätzchenbacken.

Alraune übt einen ziemlich einzigartigen Beruf aus. Aus verschiedensten alten Stoffen formt sie Kunstmenschen. Sie sind mit Wattebausch gefüllt, damit sie das nötige Volumen erhalten, und sie stehen oder sitzen maßstabsgetreu im Raum.

Die Figuren wirken lebensecht, zumal sie immer in eine Aktion eingebunden sind. Alraune packt ihre Kunstmenschen in Gruppen zusammen. Ihre Bagage sitzt um einen Tisch, sie hantiert in einer Metzgerei oder werkelt an grausamen Operationen.

Aus Stoff und Borte schafft sie eine witzige Welt: Alraune.
Aus Stoff und Borte schafft sie eine witzige Welt: Alraune. | Bild: Fricker, Ulrich

Seit mehr als 40 Jahren betreibt Alraune ihre Stoffwerkstatt. Nun gehen Sie und ihr Mann Hans einen neuen Schritt. Die beiden kauften den Mönchen des Klosters Beuron ein stillgelegtes Hotel mitten im Ort ab. Das Gregoriushaus trägt einen ehrwürdigen Namen. Es diente früher als Nachtlager für Pilger, die für einige Tage bei den Benediktinern im Donautal verweilen wollten.

Als die Sieberts das Anwesen erwarben, staunten sie über die Hinterlassenschaften in den Etagen. Die Gebäude erwiesen sich als Lost Place erster Güte. Sie entdeckten das Gerümpel, das die Vorgänger in der Herberge geparkt hatte. „Das waren Messies“, berichtet Alraune, bevor sie den Besucher in ihre Küche bittet.

Einst Pilgerstätte: Im Gregoriushaus in Beuron ist Alraunes Figurentheater ab Ostern zu sehen.
Einst Pilgerstätte: Im Gregoriushaus in Beuron ist Alraunes Figurentheater ab Ostern zu sehen. | Bild: Fricker, Ulrich

Das textile Figurentheater von Alraune war bisher ein Wanderzirkus. Ihre großen Tableaus mit den Hominiden aus Stoff und Nähfaden gastierte schon in großen Kaufhäusern und verblüffte harmlose Käuferinnen mit ihrem grotesken Gesichtsausdruck.

Zuletzt belebten Alraunes Werke das Städtchen Haigerloch im Zollernalb-Kreis. Dort war im ehemaligen „Schwanen“ Platz genug für das skurrile Kabinett, das dort Raum um Raum füllte und die Besucher entzückte oder zart erschreckte – je nach Stärke der Nerven und des Magens. Alraune geht mit Kunstblut aus Stoff und großen Messern nicht sparsam um.

Von Haigerloch ins Donautal

Doch dann fühlten sich die beiden in Haigerloch nicht mehr wohl. Kneipen schlossen, das Städtle vereinsamte. Durch einen Tipp kamen sie auf Beuron im Donautal. Sie besichtigten das Gregoriushaus, erschraken ob der Sauerei im Inneren und kauften es dann doch.

Alraune wirkt auf den ersten Blick wie eine zierliche Fee. Der Eindruck täuscht, sie weiß genau, was sie will. Kistenweise schleppten die beiden den Unrat aus dem Haus. Sie malten die Wände an und hängten Lampen auf. Dann füllten sie die Zimmer mit den Gestalten aus Alraunes Fantasiewelt. „Auf Ostern wollen wir unser Privatmuseum öffnen“, sagt die Chefin. Hans Seibert, der unerschütterliche Seelenmensch und Faktotum in der verrückten Villa, nickt. Er arbeitete früher als Sozialpädagoge, was ihm heute mit Sicherheit zugutekommt.

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Eindrücklich gestaltet sie die Gesichter: Durch gezieltes Setzen der Nähte und den Auftrag von Farbe schafft sie Porträtnähe. Am eindrücklichsten gelingt ihr das bei der Prominenz.

Da steht Salvador Dali neben Marlene Dietrich und diese neben Hitler, Miss Sophie sowie Butler James aus „Dinner for One“, assistiert von Miss Marple. Dass sie Hitler in die Runde setzt, schreckt den Besucher zunächst. Ihr Figurentheater ist nicht zum Wohlfühlen, eher eine grelle Katharsis. Alraunes Adolf wird dabei demaskiert: ein jämmerliches Wesen.

Zwielichtige Gesellschaft: Miss Sophie, Salvador Dali, Marlene Dietrich, Hitler, Friedrich der Große.
Zwielichtige Gesellschaft: Miss Sophie, Salvador Dali, Marlene Dietrich, Hitler, Friedrich der Große. | Bild: Fricker, Ulrich

Für ihre mittlerweile 80 Typen benötigte sie große Mengen an Stoff. Manche Besucherin kommt mit gutem Willen und vollen Taschen vorbei, um Alraune abgehangenes Material aus dem Kleiderschrank zu bringen. Das braucht sie nicht. „Pelze, Leder, Bänder, Borten, Knöpfe, Altkleider, Modeschmuck, Stühle, Tische. Mein Lager ist doch voll“, bemerkt sie zu den gut gemeinten Geschenken. Alles, was sie macht, schafft sie selbst herbei und trennt die Nähte auf bis in die Puppen. „Am liebsten arbeite ich bis tief in die Nacht, und zwar allein“, sagt Alraune.

„Ich liebe das Geheimnisvolle“

„Alle Figuren schauen dich an“, sagt sie. Große Augen, lange Wimpern, dicke Schminke. Da ist ein Metzger, der liebevoll und vieldeutig mit dem Messer hantiert. Oder das Tableau mit der Schönheits-OP, von dem der Betrachter ahnt, dass der Eingriff schiefgeht. Die Figuren agieren dubios, eine breite Palette von freundlich bis gefährlich, von lüstern bis geschäftstüchtig.

„Ich liebe das Geheimnisvolle“, sagt die Artistin an der Nähmaschine und klappert mit den Augendeckeln. Und wenn sie neben ihren genähten Kreaturen steht, wird noch etwas deutlich: Das eine oder andere Modell sieht Alraune ähnlich.

Nichts für schwache Nerven: Alraunes blutig-blumige Metzgerei.
Nichts für schwache Nerven: Alraunes blutig-blumige Metzgerei. | Bild: Fricker, Ulrich

Auch die privaten Räume in dem Hotelkasten sind heimelig bis abgründig eingerichtet. „Ich könnte jeden Tag eine Wohnung einrichten. Ein paar wenige Sachen in der Wohnung sind neu wie die Kaffeemaschine. Alles andere ist Vintage. Fundstücke von Flohmärkten und Hausräumungen.

Die Seiberts bewohnen ein farbenfrohes Wolkenkuckucksheim. Überall stößt der Gast auf christliche Symbole. Eine Christusfigur mit offenem Herzen. Und Madonnen in Mehrzahl. „Ich bin nicht kirchlich gebunden“, berichtet Alraune, „aber die Jungfrau Maria hat es mir angetan. Ich kann gar nicht genug Marien um mich herumhaben.“

Immer wieder nimmt sie sich einen der Primaten vor und arbeitet den Kopf um. Über das Gesicht näht sie ein zweites Gesicht auf. Sie versichert: Eine Figur wird in der zweiten oder dritten Auflage besser. Es erhalte noch mehr Tiefe.

Zu tief lässt sich Alraune nicht in die Karten schauen. Ihren Künstlernamen hat sie aus der Natur geliehen, die sich auch ständig ändert und die Menschensäuger eines Tages überleben darf. Die Pflanze Alraune wächst aus einer Wurzel, die wie ein Männchen aussieht. Von diesem Gewächs heißt es: „Alraune kann Gift sein, wenn man zu viel davon erwischt, Krämpfe und Halluzinationen drohen.“