Könnten wir jetzt bitte alles mal ein bisschen geruhsamer angehen? Vielleicht bekämen wir dann mehr Probleme in den Griff als gedacht. Zum Beispiel das Elend mit der gesellschaftlichen Spaltung und dem zunehmenden Hass im Internet. Fehlt nämlich Zeit zum Denken, schreibt Friedrich Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: „Man begnügt sich, sie zu hassen.“

Dass wir in einer sich ständig beschleunigenden Welt leben, ist für sich genommen keine neue Erkenntnis. Schon Goethe sprach vom „velofizerischen“ Zeitalter, kombinierte damit das Rad („Velo“) mit dem Teufel („Luzifer“). Und der bereits erwähnte Nietzsche war es auch, der uns darin ein „halbes oder falsches Sehen und Urtheilen“ prognostizierte: „Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennenlernen.“

Der Philosoph Byung-Chul Han aber lenkt die Aufmerksamkeit nun auf einen anderen Punkt. Fort von der Geschwindigkeit, hin zur Tätigkeit. Allem Unbehagen an der Beschleunigung zum Trotz hat diese nämlich bislang noch immer Lob erfahren, zum Beispiel bei Hannah Arendt in ihrer Schrift „Vita activa oder Vom tätigen Leben“. Der Mensch, so führt sie darin aus, komme auf die Welt, um sie zu beeinflussen, zu formen, kurzum: zu handeln. Aber ist das wirklich seine ureigenste Bestimmung?

Wenn ein Neugeborenes die Augen aufschlägt, sagt Han, so geschehe das nicht, weil es dem dringenden Bedürfnis folgt, seine Welt zu formen. Sondern allein, um sie anzuschauen.

Der Philosoph Byung-Chul Han.
Der Philosoph Byung-Chul Han. | Bild: privat

Wer nur schaut, statt zu handeln, macht sich verdächtig in dieser aktivitätssüchtigen Gegenwart. Einem Säugling mag man es noch nachsehen, der Erwachsene hingegen kann keine Nachsicht erwarten. Anpacken statt bloß glotzen und gaffen, lautet die Devise!

Dabei kann der Mensch ohne das Schauen nicht leben. Sondern allenfalls existieren. Zum Leben nämlich gehört die Dimension des Religiösen, und es zählt zu den tragischen Irrtümern der Moderne, dass diese Dimension so fälschlich mit Gott, Kirche und Frömmigkeit verknüpft wurde. „Religion haben, heißt das Universum anschauen“, brachte der Theologe Friedrich Schleiermacher den Begriff auf den Punkt. Und er fügte hinzu: Man müsse zugeben, dass eine Religion ohne Gott besser sein könne als mit ihm.

Wann kommt der Mensch noch zu einer Weltanschauung, die diesen Namen verdient? Die mehr ist als die bloße Übernahme vorgefertigter Meinungen, eilig abgegriffen zwischen zwei Etappen auf der täglichen Hatz?

Byung-Chul Han: „Vita Contemplativa – oder von der Untätigkeit“ Ullstein Verlag: Berlin 2022; 128 Seiten, 22,99 Euro.
Byung-Chul Han: „Vita Contemplativa – oder von der Untätigkeit“ Ullstein Verlag: Berlin 2022; 128 Seiten, 22,99 Euro. | Bild: Ullstein

Wer schaut, der handelt nicht. Er überlässt sich ganz dem Lauf der Dinge, fügt sich einer höheren Macht. Von außen zu erkennen ist das an seiner Anmut. Byung-Chul Han verweist auf Heinrich von Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“, in dem der Erzähler darüber rätselt, warum die Puppen so viel natürlicher, so viel graziler zu tanzen verstehen als der Mensch – obwohl sie doch nur aus Holz bestehen.

Die Erklärung lautet: Weil ihre Bewegung an unsichtbaren Fäden hängt, sie selbst dagegen buchstäblich nichts tun. Will der Mensch aus eigener Kraft und eigenem Willen diese Anmut erzeugen, so geht das nur über hartes Training.

Noch so ein Missverständnis unserer Zeit: Wer die Welt nur anschaut, statt sie in seinem Tatendrang andauernd aufs Neue umzupflügen, der müsse doch zumindest erwarten können, ganz viel Wissen über sie anzuhäufen!

Es ist der Klassiker einer Gesellschaft, die von Wissen spricht, wo sie eigentlich nur Informationen meint, und die erwiesen nennt, wo oft nur Behauptungen vorliegen. Tatsächlich ist der Raum des Anschauens einer der Ahnung. Und Ahnung ist eben nicht – wie so gerne angenommen – ein defizitäres Wissen, keine „Vorstufe an den Treppen des Wissens“, wie Martin Heidegger betont.

Es ist vielmehr „die Weise, durch die Wesenhaftes uns ankommt“, die „Halle, die alles Wissbare verbirgt“. Dass sich vieles, wenn nicht sogar alles auf dieser Welt niemals wissen, sondern allenfalls ahnen lässt, ja dass wir „Wesenhaftes“ überhaupt erst im Ahnen spüren können: Für den neuzeitlichen Menschen scheint dieser Gedanke ganz und gar unerträglich zu sein.

Das ganz gewusste Leben ist ein totes

Deshalb stürzt er sich in Tätigkeit, deshalb gaukelt er sich endgültige Gewissheiten vor und versieht abweichende Ansichten mit dem Etikett der Unwissenheit. Dabei ist „das ganz gewusste Leben ein totes“, schreibt Han.

Der Mensch ersticke geradezu in seinem eigenen Tun, heißt es. Sogar Feste, einst dazu gedacht, gemeinsam eine Zeit ohne Zweck und Nutzen zu verbringen, werden zur Ware und damit zur zielgerichteten Tätigkeit. Das Event verlangt nach Konsum, statt einer Gemeinschaft entsteht bloß die Community, wo Bindungen sein könnten, bleibt allein das lose Netzwerk. Sind wir überhaupt noch zu retten?

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Die Antwort lautet: unbedingt! So tiefschwarz, wie Han unsere Welt sieht, ist sie nicht. Momente des Religiösen scheinen durchaus auch in dieser tätigkeitswütigen Gesellschaft auf, etwa wenn sich der Wanderer in die Anschauung des Hochgebirgspanoramas versenkt. Auch ist längst noch nicht jedes Fest ein Event, gerade auf dem Land ist das Fundament für Gemeinschaft vielerorts erhalten. Neuere Phänomene wie Sabbatjahre im Berufsleben kommen in Byung-Chul Hans Generalabrechnung zu kurz.

Grenzt man sein Essay jedoch auf den öffentlichen, insbesondere digitalen Raum ein, so kommt man nicht umhin, im Diktat der Tat eine zutreffende Diagnose unseres gesellschaftlichen Krankheitsbilds zu sehen. Wenn der Mensch nicht lernt, auch ohne andauerndes Tun mit sich ins Reine zu kommen, wird er weder zum Klima noch zu seinen Nachbarn ein harmonisches Verhältnis finden.