Paris hat seinen Eiffelturm, Barcelona die Sagrada Familia, Berlin das Brandenburger Tor und Verona das Amphitheater. Meist sind es markante und symbolträchtige Bauten, die zum Wahrzeichen einer Stadt werden und dann von Touristen auf Magneten nach Hause getragen und an den Kühlschrank geheftet werden.
Auch Bregenz hat ein Wahrzeichen. Das lässt sich allerdings nur schwer auf Magneten bringen, denn es ändert alle zwei Jahre seine Gestalt. Mal ist es der Leuchtturm des Fliegenden Holländers, mal das Auge der Tosca, mal sind es die Hände der Carmen, Rigolettos Clownskopf oder (wie in diesem Jahr) das Geisterdorf des Freischütz. Die Seebühne der Bregenzer Festspiele entsteht mit jeder Opernproduktion neu.
Zwei Sommer lang wird auf ihr gespielt und gesungen, doch kaum ist der letzte Ton verklungen, rücken die Bagger zum Abriss an. Die Seebühne verschwindet unwiederbringlich. Kein Archiv, kein Fundus nimmt sie gnädig auf.
Die Wahrzeichen von Bregenz sind letzten Endes temporäre Bühnenkunstwerke. Was bleibt, ist ein Betonkern mit Garderoben und Technik (und selbst dieses Herzstück wurde aktuell erneuert) sowie eine Unterwasser-Infrastruktur, auf der die nächste Bühne entstehen kann. Der Rest ist Wasser. Die Weite des Bodensees.
Das Wasser ist wie eine Leinwand
Sucht man nach dem, was die Bregenzer Festspiele so besonders, so einzigartig macht, kommt man natürlich schnell auf das Wasser zu sprechen. Andere Opernfestspiele unter freiem Himmel passen sich meist in eine historische Kulisse ein. Schlösser, Kirchen, Burgen, Ruinen, wie etwa (um Beispiele aus der Region zu nennen) der Klosterbezirk in St. Gallen oder die Burganlage in Heidenheim geben dem jeweiligen Festspielort von vornherein ein unverwechselbares Gepräge.
Das ist in Bregenz anders. Nicht dass der Bodensee ein unspezifischer Ort wäre. Und natürlich ist er ein Aushängeschild der Bregenzer Festspiele. Gleichzeitig ist das Wasser erst einmal neutral, es repräsentiert keine bestimmte Epoche, keine bestimmte Kultur. Es verhält sich eher wie eine Leinwand. Sie muss erst einmal bemalt, zu einem Bild gemacht werden.
Die Tücken des Bodensees
Zugleich ist der See mehr als bloße Kulisse – schließlich heißt es Spiel auf dem See, nicht etwa Spiel vor dem See. Das bedeutet, die Bühne muss seetauglich sein. Seetypische Kapriolen wie wechselnde Wasserstände müssen mitgedacht und beherrschbar gemacht werden, etwa durch absenkbare Plattformen.
So hat Regisseur und Bühnenbildner Philipp Stölzl für den diesjährigen „Freischütz“ unmittelbar vor der Zuschauertribüne ein künstliches Wasserbecken anlegen lassen – das Dorf mit den windschiefen Hütten soll optisch in einer Sumpflandschaft stehen. Und in diesem Becken lässt sich der Wasserpegel unabhängig vom Wetter konstant halten.
Ist der See erst einmal gezähmt, zeigt er gerne seine schauspielerischen Qualitäten. Keine Produktion, in der das Wasser nicht irgendwie in die Inszenierung einbezogen würde – sei es durch einen spektakulären Sprung ins Wasser (etwa in der „Tosca“, als der erschossene Cavaradossi aus dem ikonischen Riesenauge ins Wasser stürzt), sei es mit Booten, die vom See auf die Bühne zusteuern, sei es in Form eines Wasserballetts („Aida“, „Carmen“). Die Handlung darf dabei durchaus auch mal angepasst werden. So ersticht Don José die Bregenzer Carmen nicht etwa, sondern ertränkt sie im Wasser.

Oper als große Show. Auch das ist das Spiel auf dem See. Es bietet alles auf, was dafür nötig ist. So springen Stunts buchstäblich dort ein, wo es heikel wird. Sänger und Sängerinnen stürzen sich schließlich selten selbst aus großer Höhe in den See. Die Seebühne fordert sie auch so schon zur Genüge heraus. Dazu gehört das Singen im Regen, der Kampf gegen den Wind und nicht selten auch gegen Höhenangst. Denn die Seebühne hat in der Regel enorme Ausmaße – sowohl in der Fläche als auch in der Höhe. Und das ist trotz aller Sicherheitsvorkehrungen wie Geländer oder Gurte oft auch eine Herausforderung.
Pyrotechnik in der Wolfsschlucht
Auch der Einsatz von Pyrotechnik wird mal mehr, mal weniger ausgiebig zelebriert. In diesem Jahr vermutlich eher mehr – die zentrale Wolfsschlucht-Szene im „Freischütz“, in der Max und Kaspar zur Mitternacht die Freikugeln gießen, dürfte dafür genügend Anlass geben. Übrigens, so ist von Seiten der Festspiele zu erfahren, gibt es keine vertragliche Vereinbarung mit den jeweiligen Regisseuren über das Einbeziehen von Feuer und Wasser in die Inszenierung. Doch das Vorgehen ist längst zu einer Bregenzer Tradition worden.
Eine solche hat sich allerdings erst im Laufe der jahrzehntelangen Geschichte der Festspiele herausgeschält. Die Anfänge, die auf die Nachkriegszeit zurückgehen, muss man sich wesentlich schlichter vorstellen. Im so genannten Gondelhafen bildeten zwei Kieskähne 1946 die erste Seebühne. In dem einen Kahn saß das Vorarlberger Rundfunkorchester, der andere war für die Sängerinnen und Sänger. Das Wasser diente als natürlicher Schallverstärker. Gegeben wurde Mozarts kleines Singspiel „Bastien und Bastienne“. Es war Teil einer „Bregenzer Festwoche“, deren Sinn nicht zuletzt darin bestand, den Tourismus anzukurbeln und Schweizer Devisen ins Land zu holen.
Es gab auch Krisenzeiten
Es folgten Jahre und Jahrzehnte, in denen sich erst allmählich das herausbildete, was heute die Bregenzer Festspiele sind. Und dabei lief nicht immer alles rund. Gestritten und gerungen wurde – wie praktisch überall, wo es um Kulturveranstaltungen geht – um Subventionen, um die inhaltliche Ausrichtung und um den Bau eines Festspielhauses, das schließlich 1980 eröffnet wurde. Die Achtzigerjahre bildeten dabei ein Übergangsjahrzehnt. 1983 startete die Ära des Intendanten Alfred Wopmann (bis 2003), mit der „Zauberflöte“ 1985/86 beginnt dann der zweijährige Turnus auf der Seebühne, so wie wir ihn heute kennen.

Schon immer verstanden sich die Bregenzer Festspiele jedoch als Kulturfestival mit einem breiten Angebot an Theater, Oper und Orchesterkonzerten. Das Spiel auf dem See bildet dabei das Herzstück, das auf 7000 Zuschauer pro Vorstellung zielt und sich somit zum kommerziellen Erfolg verpflichtet. Das wiederum ermöglicht die Querfinanzierung von zeitgenössischem Musiktheater oder multimedialen Projekten, wie sie in der 1997 eröffneten Werkstattbühne angeboten werden.
Auf der Seebühne geht der Trend unterdessen zum großen Kino. Einfach nur Oper in einer schönen Kulisse spielen – das war mal. Der See wird mit einbezogen, auch die Bühne soll immer wieder für Überraschungseffekte sorgen. Was sie „kann“, ist stets eines der bestgehüteten Geheimnisse vor jeder Premiere. Denn statisch wie es beispielsweise noch die Ölraffinerie zum Troubadour (2005/06) war, ist eine Bühne inzwischen kaum noch.
Und wenn doch, wie etwa die Hände der Carmen (2017/18) oder das Blatt Papier, auf dem „Madame Butterfly“ spielte (2022/23), wird sie durch Licht- und Videoprojektionen animiert. Meist aber bewegt sich die Bühne mit, öffnet sich, bietet neue Perspektiven, interpretiert die Handlung.
Orchester verschwindet ins Festspielhaus
Je stärker das Bühnenbild über die Jahre in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte, desto mehr zog sich das Orchester zurück. Zumindest optisch. Noch bis 1998 spielten die Wiener Symphoniker sichtbar in der Seekulisse. Dann zogen sie in das Innere der Seebühne. Seit 2005 spielt das Orchester im Festspielhaus, von wo es live nach draußen übertragen wird.
Das ermöglicht paradoxerweise eine stärkere akustische Präsenz, die sich wiederum an den Hörerwartungen eines an Surround-Effekten gewöhnten Publikums orientiert. Das Soundsystem mit dem Namen Bregenz Open Acoustic, kurz BOA, macht das möglich. Hunderte von Lautsprecherboxen werden dazu unsichtbar im jeweiligen Bühnenbild verbaut, zusätzliche Lautsprecher um den Zuschauerbereich positioniert.
So wird auch das so genannte Richtungshören möglich: Ein Sänger, der seine Arie von der Bühne rechts oben schmettert, ist dadurch auch für das Publikum akustisch rechts oben verortbar. 2019 wurde BOA noch einmal weiterentwickelt und verfeinert. Ist die Bregenzer Show überhaupt noch zu toppen? Das muss die Zukunft zeigen.