Von allen Unarten des Argumentierens erfreut sich eine besonders hässliche Variante wachsender Beliebtheit. Sie ist in der Fachliteratur unter dem etwas sperrigen Anglizismus Whataboutismus bekannt und zwar bereits seit den 70er-Jahren.

Damals erkannten amerikanische Diplomaten bei internationalen Auseinandersetzungen um Menschenrechtsfragen ein wiederkehrendes Prinzip. Äußerte beispielsweise ein westlicher Regierungschef Kritik an den sowjetischen Gulags, kaum aus Moskau zuverlässig die Antwort: „Und was ist mit den USA? Dort lynchen sie Schwarze!“

Die Einstiegsformulierung „What about“, zu deutsch „Was ist mit...“, hat sich seither zu einer raffinierten Ablenkungswaffe entwickelt. Wer nämlich erst gänzlich frei von jeglicher Sünde zu sein hat, bevor er den ersten Stein wirft, sieht sich im öffentlichen Diskurs unversehens schachmatt gesetzt. Keine andere Formel eignet sich so zuverlässig als Totschlagargument.

Whataboutismus ist inzwischen so tief in unseren täglichen Debatten etabliert, dass wir ihn kaum mehr bemerken. CDU-Chef Friedrich Merz regt sich über Gendersprache im Rundfunk auf: Dass in der Ukraine zurzeit Kinder sterben, interessiert ihn wohl nicht oder was?

Auf der Documenta werden judenfeindliche Motive gezeigt: Ja, was glaubt ihr denn, was Muslime so täglich an Rassismus aushalten müssen? Schon klar, rechte Gewalt ist zu bekämpfen: Aber wenn in Hamburg am Ersten Mai der linke Mob wütet, geht das wohl in Ordnung!

Wer im Glashaus sitzt

Das Perfide an dieser Ablenkungswaffe ist, dass sie einen Teil der Wahrheit immer trifft. Es liegt ja auf der Hand, dass im Schatten eines Krieges nicht jedes Thema gleichermaßen dringlich erscheint.

Selbstverständlich sollte man neben der Sorge vor Antisemitismus auch andere Formen der Diskriminierung im Blick behalten. Und manch politisch einäugiger Zeitgenosse kann eine höfliche Erinnerung an Missstände im eigenen Lager in der Tat gut vertragen.

Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen: Es hat schon seinen guten Grund, weshalb wir dieses Sprichwort noch heute unseren Kindern einbläuen. Allein, um die damit beabsichtigten Tugenden wie Verhältnismäßigkeit, Umsicht und Demut geht es dem Anwender dieses Argument nur in seltenen Fällen.

Das könnte Sie auch interessieren

Ob die Phrase „Was ist mit...“ tatsächlich auf die Einhaltung von Maß und Mitte abzielt oder in Wahrheit nur bloße Ablenkung beabsichtigt ist, lässt sich oft nur im Nachhinein beantworten. Wenn ein Kontrahent, der eben noch das Leid der Kinder in der Ukraine zur Richtschnur für den Diskurs erhob, sich plötzlich seinerseits über Fasnachtskostüme und Indianerfilmchen ereifert: Dann erst wird Whataboutismus als solcher sichtbar.

Wer als Whataboutist entlarvt wird, dem bleibt als zweiter rhetorischer Kniff nur noch der Hysterievorwurf. Es gilt die Regel: Hysterisch sind immer die anderen. Das eigene Anliegen dagegen ist ein zum Erkenntnisgewinn überfälliger Debattenbeitrag.

Es ist darin zwar in der Sache nichts gewonnen. Aber wenigstens bleibt ein sehr beruhigendes, ungemein deutsches Gefühl: am Ende trotz allem Recht behalten zu haben.