In einer Zeit, in der das gesprochene Wort Menschen noch in die Kirche führte, erinnere ich mich eines merkwürdigen Satzes: Man finde Jesus nur im Staub. Ich sehe den Mann, der diese Worte spricht, noch vor Augen. Irgendein Sonntag in der Lutherkirche, ein Satz wie ein Hammer. Im Staub, unten im Dreck sollte man den Mann aus Nazareth finden? War da nicht die Hölle?
Die Aufgabe, Jesus im Staub zu suchen, war eine Aufforderung zum Versuch: Berührung mit dem Dreck der Gesellschaft als eine Erfahrung, die zu etwas anderem führt als die zivile Entrücktheit in Gotteshäusern. Die Reichen haben keine Chance, sagen die Gebrüder Grimm. Sie verlassen sich auf Geld statt auf Liebe, Geschwisterlichkeit, Zauber und Erotik. So ist ein leerstehendes Haus mehr wert als die Meinungsfreiheit junger Leute, die sich um Wohnraumzerstörung kümmern.

Eigentum ist Religionsersatz. Der Mann aus Nazareth aber war dafür bekannt, dass er sich bei denen aufhielt, die kein Eigentum besaßen. Er war auf der Suche nach dem Staub der Gesellschaft, und dabei geschahen wundersame Dinge. Lahme konnten gehen, Prostituierte wurden heilig, Reiche pfiffen auf ihr Geld.
Wie fühlt es sich heute an, wenn wir sehen, dass ein alter Mann aus Rom vor Verbrechern niederkniet, ihnen die Füße wäscht: Peinlich? Fremdschämen?
Warum die und nicht wir?
Wenn der Mann wieder aufsteht, stellt sich uns eine Frage: Warum die und nicht wir? Die christliche Religion ist weniger wegen ihrer Schuldtheorie interessant als wegen der Aufforderung des Messias zum Rollentausch. Damit entsteht die Dimension dessen, was sein könnte: Wir sind im Reich der Utopie, etwas das Realpolitikern schon lange abgeht.
Wie fühlt es sich an, nicht in frischer Wäsche aufzuwachen, sondern im Schmutz? Wer sich dem nicht mehr stellt, wie die neue Generation von Politikern, Richterinnen, Abgeordneten, wie wollen deren Körper, deren Geist die Lebenswelt des Staubes spüren?
Sie müssten ihren Hintern heben, sie müssen nicht einmal Füße waschen, aber ich will sehen, wie sich der Oberbürgermeister im Gefängnis benimmt, arrogant oder liebevoll, die evangelische Dekanin, der Imam im Hospiz oder in der Psychiatrie die Patienten liebkost. Hat die Landtagsabgeordnete jemals eine Flüchtlingsfamilie aufgenommen oder einen Aussätzigen gewaschen?
Arroganz entsteht aus der Ferne. In den Arbeitsgerichten wirken Richterinnen, die noch nie acht Stunden auf den Beinen bei H&M standen. Ich sehe im Blick einer jungen Strafrichterin, wie sie angewidert einen drogensüchtigen Angeklagten anschaut.
Man muss nicht Jesus suchen, aber wenn man davon lebt, andere politisch zu repräsentieren, Recht zu sprechen, über Lebensverhältnisse zu schreiben oder Armut zu singen, gar Theater zu spielen und meidet den Staub, wird man nicht einmal seiner Aufgabe gerecht. Von Erlösung und dem Mann aus Nazareth mag ich gar nicht sprechen.