Der Psychoanalytiker Zvi Rix war der Ansicht, die Deutschen würden den Juden „Auschwitz nie verzeihen“. Ja, richtig gelesen: Die Deutschen den Juden – nicht umgekehrt.
Wer die Debatte um antisemitische Stereotype auf einem Kunstwerk der documenta in Kassel verfolgt hat, gewinnt den Eindruck: Vielleicht sind wir Deutsche auf dem Weg, den Juden ihr Opfersein nachzusehen, inzwischen doch ein gutes Stück vorangekommen. Wenn auch auf denkbar fatale Weise.
Ein indonesisches Künstlerkollektiv namens Taring Padi hatte zur bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst ein Bild beigesteuert, das einen Juden mit Vampirzähnen und SS-Runen auf seinem Hut zeigte, ein anderer trug eine Schweinsmaske, auf seinem Halstuch prangte ein Davidstern, den Helm zierte das Wort „Mossad“. Dass dieser Tabubruch überhaupt möglich war, verdankte sich einem zutiefst ehrenwerten Anliegen: Erstmals sollten Künstler aus ehemaligen Kolonien ihren Blick auf diese Welt präsentieren dürfen, unbelastet von Eingriffen einer europäischen, weißen Kunstelite.
Die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit ist überfällig. So war die Herkunft von Kulturschätzen wie den Benin-Bronzen viel zu lange ungeklärt geblieben, über die Verbrechen deutscher Besatzer in Namibia schwiegen sich die Geschichtsbücher noch bis vor wenigen Jahren weitgehend aus. Mit dem Brechen dieses Schweigens geht nun nicht allein ein wachsendes Verständnis für die strukturellen Probleme in anderen Teilen unserer Welt einher. Zunehmend wird dieser Gesellschaft auch bewusst, dass kolonialistische Machtverhältnisse bis heute fortbestehen – wenn auch geschickter getarnt durch ökonomische Abhängigkeiten statt militärischer Aufmärsche.
Eine bittere Note
Doch mit dem Vorfall von Kassel erhält das erwachte Interesse für die Kolonialgeschichte eine bittere Note. Denn vor lauter Schuldbewusstsein gegenüber den ehemaligen Kolonien ist die Schuld von Auschwitz – Ex-Kanzlerin Angela Merkel hatte sie noch als „unverhandelbaren“ Teil deutscher Identität gewürdigt – für einen Moment aus dem Blick geraten. Gerade lange genug, um Vampir und Schwein in Kassel einen großen Auftritt zu ermöglichen.
War das nur ein Ausrutscher? Oder treiben im Fahrwasser der so wichtigen Kolonialismuskritik auch weniger ehrenwerte Motive?
Der Verdacht: Im Diskurs über die deutsche Kolonialgeschichte wittern nicht wenige die günstige Gelegenheit, sich des Themas Auschwitz zu entledigen, es wenigstens endlich mal ein bisschen tiefer zu hängen. Erste Indizien dafür lieferte gleich in der ersten Reaktion auf den documenta-Eklat das Leitungsteam selbst. Von einem „speziellen Kontext in Deutschland“ war da die Rede, von einer Darstellung, die lediglich „antisemitische Lesarten bietet“ – als bedürften Schweine mit Davidsternen und Vampire mit Schläfenlocken bösartiger, mindestens deutscher Lesarten, um als antisemitisch zu gelten.
Es folgte die bemerkenswert formulierte Argumentation von Jörg Sperling, inzwischen zurückgetretener Vorsitzender des documenta-Forums. In den judenfeindlichen Klischees sah dieser lediglich ein „Thema“, das die Kunst „aufgebracht“ habe: nämlich „das Verhältnis von Palästinensern und Israelis“. „Eine freie Welt“ müsse das nun mal „ertragen“. So unverhohlen hat im Land des Holocausts noch niemand versucht, eine antisemitische Bildsprache unter den schützenden Schirm der Kolonialismusdebatte zu rücken.
Man muss das hinter dieser Debatte oftmals hervorscheinende Weltbild verstehen, um die Bedeutung dieses Versuchs ermessen zu können. Es ist ein Weltbild, das zwischen Tätern und Opfern, Gut und Böse eine eindeutige Trennlinie zieht, ein „Schwarzweiß-Schema“, in dem für Juden kein Platz mehr ist, wie die Antisemitismusforscherin Saba-Nur Cheema im Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt. Israel komme darin die Rolle des westlichen, weißen Kolonialprojekts zu: „Das sagt viel darüber aus, warum dieses antiisraelische Bild so weit verbreitet ist unter vielen, die mit den postkolonialen Ansätzen arbeiten.“
Das schlechte Gewissen bleibt
Wird Judentum mit Israel gleichgesetzt und Antisemitismus zu einem Problem des Kolonialismus umgedeutet, bleibt zwar noch immer schlechtes Gewissen übrig. Es lässt sich aber leichter aushalten.
Denn im Kontext der Kolonialherrschaft wird die Schoah zu einem Ereignis unter vielen anderen. Der Deutsche ist nun nicht mehr alleinschuldig, sondern teilt sein dunkles Erbe mit Angehörigen anderer früherer Großmächte wie Frankreich, Spanien, Großbritannien. Und womöglich verspürt so mancher, der sich demonstrativ von diesem Erbe distanziert, insgeheim den wohligen Schauer moralischer Selbstermächtigung: Zumindest lässt sich über eigene Schuld aus einer faktischen Position der Stärke heraus leichter sprechen als aus empfundener Unterlegenheit.
Genau hier liegt die wesentliche Differenz zwischen rassistisch-kolonialistischen Denkmustern einerseits und antisemitischen andererseits. Es ist der Unterschied zwischen Herab- und Hinaufblicken: hier die Geringschätzung angeblich unzivilisierter Kulturen, dort die Furcht vor vermeintlicher Weltverschwörung. In den bei Taring Padi auftauchenden Mossad- und Vampir-Metaphern kommt letztere mustergültig zum Ausdruck.
Der simplifizierende Blick auf den Kolonialismus, die daraus folgende Verharmlosung antisemitischer Hetze: Das ist doch aber ein exklusives Phänomen der documenta? Nicht wirklich. In den sogenannten sozialen Netzwerken etwa findet sich unter Profilen namhafter Künstler manch denkwürdiger Beitrag.
Da reduziert die in Berlin lebende Videokünstlerin Candice Breitz das Problem auf angeblich von der „deutschen Mainstream-Presse“ übernommene „rechte Narrative“, den Holocaust stellt sie umstandslos in eine Reihe mit Kolonialverbrechen. Anzahl und Herkunft der „Likes“ unter solchen Thesen lassen keinen Zweifel daran aufkommen: In der Kunstszene müssen sich Leute wie Jörg Sperling nicht einsam fühlen.