Michelle, viele Ihrer neuen Texte sind für Schlagerverhältnisse sehr ehrlich, zuweilen regelrecht schonungslos.

Der schöne Schein und die heile Welt, das war noch nie so mein Ding. Wir haben alle keine blütenweiße Weste, jeder Mensch hat seine Geschichte, und ich finde es einfach wichtig, dass ich den Menschen vom Leben erzähle.

Tut es Ihnen gut, mit Ihren Liedern auch dorthin zu gehen, wo es wehtut?

Ich glaube, dass jeder Mensch seine Geschichte und jedes Leben Höhen und Tiefen hat. Songs wie „Gespräch mit Gott“, wo ich über einen Suizidversuch spreche, oder „Der Junge mit den weißen Haaren“, der mir aus meiner früheren Pflegefamilie besonders in Erinnerung geblieben ist, liegen mir einfach sehr am Herzen. Warum soll ich die dann nicht teilen?

Michelles laut ihren Angaben letztes Album, „Flutlicht“, ist gerade erschienen.
Michelles laut ihren Angaben letztes Album, „Flutlicht“, ist gerade erschienen. | Bild: Ariola

Sind Sie auch Therapeutin für Ihre Fans?

Ich möchte die Herzen erreichen, und wenn man auf ein Konzert von mir geht, dann sieht man auch manchmal weinende Menschen. Weil sie sich einfach öffnen und beim Zuhören etwas nachempfinden, was sie selbst erlebt haben. Ein Konzert ist ein Energieaustausch. Ich finde es sehr wichtig, den Menschen mitzugeben, dass es immer im Leben weitergeht. Egal, was auch passiert.

Haben sich Ihre Songs in 30 Karrierejahren stark gewandelt?

Natürlich. 30 Jahre sind eine lange Zeit. Ich bin gewachsen und habe mich weiterentwickelt. Ich kann mich heute nicht mehr hinstellen wie 1993 und singen „Erste Sehnsucht, Tränen auf rosa Briefpapier“: Das würde mir heute keiner abnehmen. Mir ging es immer darum, dass meine Musik mit mir reift.

30 Jahre im Schlagergeschäft: Das Foto zeigt Michelle bei einem Auftritt 1999.
30 Jahre im Schlagergeschäft: Das Foto zeigt Michelle bei einem Auftritt 1999. | Bild: dpa

Sie sagen gleich zu Anfang im ersten Lied „Flutlicht“: „Auch wenn ich ge-
blendet bin, ich bleibe eine Kämpferin.“

Ja, ich glaube, wir sind alle als Kämpferinnen und Kämpfer auf die Welt gekommen. Kämpfen heißt nicht Krieg führen, kämpfen heißt, für etwas einzustehen. Dass man sich jeden Morgen im Spiegel angucken und sagen kann: „Das bin ich, und ich habe alles richtig und so gut gemacht, wie ich es konnte.“ Wenn man hinfällt, was immer wieder passiert, kann man sich die Wunden lecken. Aber dann steht man wieder auf und geht weiter. Ich bin überzeugt, dass man aus jeder Niederlage und jeder Enttäuschung etwas fürs Leben lernt.

Sie hat es einige Male hingehauen. Lernt man, besser damit umzugehen?

Man gewöhnt sich ein Stück weit daran, dass das Leben immer Höhen und Tiefen haben wird. Ich sage immer, das Leben ist wie ein Ball. Wenn du ihn auf einer gerade Strecke schießt, hört er irgendwann auf zu rollen. Schießt du ihn aber einen Berg hoch, dann nimmt er bergab ordentlich Schwung und rollt viel weiter. Auch in meinem Leben wird es irgendwann wieder Tiefen geben, man muss nur lernen, damit umzugehen. Das gelingt in der Tat besser, wenn man Ähnliches schon mal erlebt hat.

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In „So oder so“ sagen Sie: „All das, was ich nicht bin, das lieb‘ ich an dir/ sonst würden wir nicht funktionieren.“ Ein ungewöhnliches Liebesbekenntnis, oder?

Mag sein, aber Gegensätze ziehen sich an, und es ist wichtig in einer Beziehung, dass man den anderen nicht verändern will, sondern einander ergänzt. Dass man sich auch Freiheiten gibt und jeden so sein lässt, wie er ist. Ich bin immer wieder verwundert, wenn ich von jemandem höre: „Ich liebe meinen Partner über alles, aber das und das kriege ich noch weg an ihm.“ Wichtig ist mir, dass man einen Partner so nehmen und lieben kann, wie er ist.

Geben Sie sich Mühe, das Kind in sich zu bewahren?

Da muss ich mir keine Mühe geben, das ist sowieso da. Meine Kinder sagen immer: „Mama, du bist so peinlich!“ (lacht) Ich hüpfe in der Gegend rum, ich summe in der Gegend rum, ich denke darüber gar nicht nach. Ich bin sehr offen, habe mich nie einschränken lassen. Es war natürlich oft nicht einfach, dass mich andere Menschen so genommen haben, wie ich bin. Auch mit meiner ganzen Lebensgeschichte, die natürlich prägt. Umso schöner ist es, dass ich jemanden gefunden habe, der mich so lieben kann, wie ich bin.

Und wie reagieren Sie, wenn Ihre Töchter Sie peinlich finden?

Ich freue mich sehr.

Von Fotografen und Fans umringt: Michelle mit ihrem Partner Eric Philippi.
Von Fotografen und Fans umringt: Michelle mit ihrem Partner Eric Philippi. | Bild: Christoph Reichwein/dpa

Sie sind sehr glücklich, sei es beruflich, privat oder gesundheitlich, oder?

Ja, ich bin endlich angekommen. Ich bin aus dem Laufrad rausgesprungen, in dem ich die meiste Zeit meines Lebens gerannt bin. Ich war immer ein Baum ohne Wurzeln, der dann auch sämtlichen Stürmen nicht standhalten konnte. Jetzt habe ich endlich begonnen, mich wirklich tief zu erden und endlich echte Wurzeln zu schlagen. Das tut mir natürlich sehr gut.

Dass Sie jetzt sagen, es ist genug, kommt für einige Leute überraschend.

Das mag sein. Aber ich glaube einfach, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Denn ich weiß, was ich will, und was ich vor allen Dingen nicht mehr will.

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Was wollen Sie konkret nicht mehr?

Ich bin sehr, sehr müde, was diese Reiserei angeht. Ich liebe es, zu singen, aber dieses Wegsein von zu Hause, gerade weil ich zum ersten Mal im Leben Wurzeln schlage, das will ich nicht mehr. Es ist so ein schönes Gefühl, so fest am Boden zu stehen, dass mich nichts mehr umhaut. Ich habe mein Leben lang von diesem Gefühl von Zuhause, von Heimat, von Geborgenheit geträumt.

Sie schlagen Ihre Wurzeln im Saarland.

Ja, richtig. Nicht der Ort ist wichtig, sondern, dass du einen Platz hast, an dem du nach Hause kommen kannst.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Ich freue mich auf alles, was kommt. Hauptsache, ich bin dabei glücklich.