Die Zahl ist hoch: 547 Sänger der Regensburger Domspatzen wurden zwischen 1945 und 1992 geschlagen, gedemütigt oder sexuell belästigt. Vermutlich waren es noch mehr, eine Dunkelziffer von 700 Fällen steht im Raum. Das steht im Abschlussbericht des Sonderermittlers, der vom Bischof von Regensburg beauftragt wurde, um das „System Domspatzen“ zu durchleuchten. Viele Fragen richten sich auch an den berühmtesten Vertreter des Elite-Chors: an Georg Ratzinger, der 30 Jahre musikalischer Chef war.

Besuch beim jüngeren Bruder in Rom

Nun ist er ein alter Mann, der die Welt nicht mehr versteht. Und er ist prominent. Sein jüngerer Bruder Joseph stieg in der katholischen Kirche Stufe um Stufe auf und wurde 2005 zum Papst gewählt. Der 95-jährige Papst-Bruder war damals bereits im Ruhestand. Georg Ratzinger besuchte seinen Bruder häufig in Rom. Er genoss seine Prominenz und gab knorrige Interviews. In dieser Zeit begann auch die Aufarbeitung von Missbrauch in katholischen Einrichtungen. Damit gerieten auch die Domspatzen ins Visier – die Vorschule wie auch das Internat.

Georg Ratzinger lehnte die Ermittlungen ab. Es sei „Irrsinn“, 40 Jahre später noch in der Vergangenheit zu suchen, sagte er. Auf die Opfer ging er nicht ein, jene Buben, die unter ihm gesungen und von ihren Erziehern drangsaliert wurden, weil sie zum Beispiel ihr Bett nässten. Dass viele von ihnen vom System Domspatzen dauerhaft geschädigt sind, interessierte ihn nicht. Das einzige, was er einräumt: Er habe ab und zu eine Ohrfeige ausgeteilt.

Der Ruf des Chors ging über alles

Von der regelmäßigen und gebilligten Gewalt an seinen Zöglingen will er nichts gewusst haben. Auch nicht von sadistischen Anwandlungen der Präfekten (Erzieher), die ihre Macht an Kindern auslebten, die musikalisch hochbegabt, sonst aber schüchtern waren und die Trennung von den Eltern als schmerzhaft empfanden. Der Chorleiter Ratzinger streitet Detailkenntnisse ab. Ihm sei es nur um den Chor gegangen – und damit seinen Ruhm als Priester-Künstler. Die Domspatzen sollten sich als bester Knabenchor in Deutschland etablieren. Die dauerhafte Schädigung von Schutzbefohlenen nahm er wissend-unwissend in Kauf. Es ging doch um die „reine“ Kirchenmusik im Dienst der katholischen Kirche.

Einmal zornig, einmal gütig

Der Bericht schildert ihn als gespaltene Persönlichkeit: Er neigte zu Jähzorn und überzogener Strenge, wenn das nächste Konzert nahte und Stücke noch nicht gut genug klangen. Und er konnte väterlich oder liebenswürdig sein, wenn eine Probe vorbei war und die Sänger ihre Sache gut gemacht hatten. Georg Ratzinger ist bisher zu keiner Erklärung bereit, die über Redensarten hinausgeht. Der Bischof von Regensburg dagegen ist froh über die Aufarbeitung ohne Scheuklappen: „Die Wahrheit wird uns frei machen,“ sagt Rudolf Voderholzer.