Hans-Peter Engelskirchen öffnet die Tür seiner Wohnung im ersten Stock und kommt der Besucherin schon auf dem Treppenabsatz entgegen: Ein freundlicher älterer Herr mit Brille und grau-melierten Haaren, mit dem man schnell warm wird. Ohne es zu wissen, hätte man nie geahnt, dass er 30 Jahre seines Lebens alkoholabhängig war. Seine Geschichte ist kein Einzelfall: Fast 3,4 Millionen Erwachsene sind im vergangenen Jahr durch Alkoholmissbrauch oder Alkoholsucht (1,77 Millionen) aufgefallen. Jedes Jahr sterben in Deutschland allein 20.000 bis 30.000 Menschen an den Folgen der alkoholischen Lebererkrankung.
Die Alkoholsucht kommt schleichend
Heute ist er 66 Jahre alt und seit 17 Jahren abstinent. Der Rentner aus Berg bei Friedrichshafen, der sein ganzes Arbeitsleben bei der MTU verbracht hat, ist ein gutes Beispiel dafür, wie schleichend man in die Abhängigkeit rutschen kann. Eine Abhängigkeit, die er sich selbst nie eingestanden hat und die auch seine Familie, seine Freunde, sein Arbeitgeber nie direkt angesprochen haben. Und er ist auch einer der wenigen, der bereit ist, über seine Sucht zu sprechen.
Eigentlich fing alles ganz harmlos an. Als 14-Jähriger probierte er zum ersten Mal Most. Der Vater arbeitete als Schweißer und hatte nicht viel Zeit für die vier Kinder. Von seiner Mutter, die sehr streng war, zog er sich eher zurück. Mit 18 fing Engelskirchen an, regelmäßig Bier zu trinken. Abends nach Feierabend ein bis zwei Bier, am Wochenende waren es dann drei bis fünf jeden Abend. Engelskirchen ist ein geselliger Mensch: Als Mitglied im Musikverein und in der Narrenzunft gingen ihm die Gelegenheiten nicht aus.
"Ich war nie jemand, der daheim getrunken hat. Ich war ein Gesellschaftstrinker.“Hans-Peter Engelskirchen
Irgendwann waren drei bis vier Bier und zwei Viertele Wein die Regel. Im Rückblick sagt er, hätten sicher auch der Druck und die Verantwortung eine Rolle gespielt, dass er schon mit 21 Jahren geheiratet und eine Familie gegründet hat.
Jürgen Schuler hilft Menschen mit Alkoholsucht
Jürgen Schuler kennt sich mit Alkohol und dessen Gefahren aus – als Psychotherapeut leitet der 63-Jährige seit vielen Jahren die Suchtberatungsstelle der Diakonie in Friedrichshafen, die nicht nur zuständig für Abhängige, sondern auch für Suchtgefährdete ist. Ein Schwerpunkt ist die Arbeit mit Jugendlichen, die Suchtmittel konsumieren, wie Alkohol, illegale Drogen oder auch spielsüchtig sind und unter Essstörungen leiden.
"Das Konsumverhalten der jungen Leute hat sich beim Alkohol in den letzten Jahren stark verändert", sagt er. Früher wurde fast ausschließlich Bier und Wein getrunken, heute sind es neben Bier eher Mixgetränke mit Spirituosen, wie Wodka-Gin, gemischt mit Säften und Powerdrinks. "Vorgeglüht wird zu Hause, man trinkt sich nicht mehr allmählich auf einer Party in Stimmung", sagt der 63-Jährige. Auch seien es immer mehr Mädchen, die oft schon mit zwölf Jahren zum ersten Mal Alkohol trinken.
"In unserer Gesellschaft braucht man eher eine Begründung, warum man nichts trinkt als umgekehrt.“Jürgen Schuler
Jugendliche könnten mangels Erfahrung die Wirkung von Alkohol nur schwer abschätzen, sagt Schuler. "Wodka hat sehr wenig Eigengeruch, in einem Mixgetränk nimmt man ihn deshalb nur über seinen eigenen Geschmack, aber nicht über den Alkohol wahr", sagt er. Jugendliche, die erheblich angetrunken von der Polizei aufgegriffen werden oder mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus landen, wird empfohlen sich bei der Beratungsstelle zu melden. Schuler nimmt dann auch Kontakt mit den Eltern auf und vereinbart ein Gespräch mit ihnen, dem Sohn oder der Tochter. Alles auf freiwilliger Basis.
Hans-Peter Engelskirchen war nie sturzbetrunken, fiel nicht auf und funktionierte bei der Arbeit. Nach 16 Jahren zerbrach seine Ehe – aus anderen Gründen, wie der 66-Jährige heute sagt. Die beiden Kinder blieben bei ihm. Im Gemeindehaus Berg, das kaum 100 Meter Luftlinie von seiner Wohnung entfernt liegt, schaute er bei Veranstaltungen und Hochzeiten, dass alles glatt lief. "Dort hatte ich immer Zugriff auf Alkohol", erinnert er sich. Flaschen, die halb leer zurückkamen, schüttete er nicht weg, sondern leerte sie zusammen mit den Helfern wenn sie nach dem Aufräumen noch zusammensaßen. Über viele Jahre ging das so weiter: Engelskirchen traf sich mit Freunden, trank, ging zur Arbeit, trank.
"Das Heimtückische ist, dass man nichts merkt", sagt er rückblickend. Mit 30 begannen zwar die ersten Gichtanfälle mit stechenden Schmerzen im großen Zeh, doch noch waren diese recht selten. Und Engelskirchen sagte sich selbst immer wieder: Solange du von Aschermittwoch bis Ostersonntag ohne Alkohol auskommst, ist doch alles in Ordnung.
"Hans-Peter, lass den Alkohol"
Doch sein Hausarzt und Freund, der nur ein paar Schritte entfernt seine Praxis hatte, warnte ihn immer wieder: "Hans-Peter, lass den Alkohol." Irgendwann brauchte Engelskirchen statt einer drei Spritzen gegen die Gicht-Schmerzen und wenn er gerade erst bei seinem Hausarzt war, ging er zum Betriebsarzt, wo er sich nicht erklären musste, weil dieser nichts von seinen schlechten Leberwerten wusste. Es war die Zeit, in der er auch merkte, dass über ihn geredet wurde, wenn er in geselliger Runde auftauchte.
Dann kam der Schnitt: Am 05. August 2002 trank er sein letztes Weizenbier. Als Engelskirchen seinen Enkel die ersten Gehversuche im Garten machen sah, beschloss er: "Der Junge soll den Opa nie betrunken erleben."
Als eines Tages eine Dienstreise mit einer Therapiestunde kollidierte, outete er sich bei seinem Chef. Engelskirchen fragte ihn, ob er denn nie etwas bemerkt hätte von seinem Alkoholproblem. Vermutet hätten sie etwas, sagte sein Vorgesetzter. "Hätten Sie mich doch zehn Jahre vorher angesprochen", sagte Engelskirchen. Auch am Kiosk im Betrieb gab es Bier, nach Feierabend konnte man dort vespern, selbstverständlich mit Alkohol.
"In unserer Gesellschaft braucht man eher eine Begründung, warum man nichts trinkt als umgekehrt", kritisiert der Suchtberater Jürgen Schuler. Das merkt Engelskirchen bis heute, wenn er bei Geburtstagen oder Festen nur Wasser trinkt. Denn rückfallgefährdet ist er jeden Tag. Seine Kinder wollten mit ihm nie über die Zeit, als er so viel trank reden. Das belastet ihn bis heute.
Das Rückfall-Risiko ist auch nach Jahren nicht gebannt
Die Therapie, die Gespräche in der Selbsthilfegruppe, die er inzwischen leitet, haben ihm geholfen, trocken zu bleiben. Auch seine Ausbildung zum Suchtberater damals für die MTU. Denn eine Schnapspraline oder ein alkoholfreies Bier reichen für einen Rückfall. "Das Gehirn erinnert sich an den Alkohol", sagt der Arzt und Alkoholforscher Helmut K. Seitz. "Bestimmte Rezeptoren schalten sofort um und schütten bestimmte Botenstoffe wieder aus." Und alles beginnt von vorn.
Schon gewusst?
Wenn Frauen Alkohol trinken, wirkt sich das schädlicher aus als bei Männern, denn der Anteil an Wasser im Körper einer Frau ist niedriger als beim Mann. So erreicht der Alkohol eine höhere Konzentration und entfaltet seine toxische Wirkung auch stärker. Zusätzlich produzieren Frauen das Enzym, das den Alkohol abbaut, in geringeren Mengen. Deshalb dauert es bei Frauen auch länger, bis der Alkohol wieder aus dem Körper verschwunden ist.