Irgendwann lässt sich Luis del Campo erweichen. Unser hartnäckiges Klopfen an die verriegelten Glastüren der kleinen Kirche im nordspanischen Palencia klingt offenbar wichtig. Der große Mann in der schwarzen Kutte öffnet und lässt die Journalistinnen-Gruppe ein. Drinnen in der Kirche laufen die letzten Vorbereitungen für die Prozession am Gründonnerstag. Um zwölf Uhr soll es losgehen.
Auf einem gewaltigen Tragegestell, umgeben von einem Meer von weißen Blumen, thront mitten im Kirchenschiff eine große Marienfigur aus Holz. Ihr Gesicht ist tieftraurig und ergreifend schön. Nur Gesicht und Hände sind zu sehen, der Körper ist verhüllt von einem schwarzen, mit Gold bestickten Samtmantel mit langer Schleppe.
Die Señora de la Soledad ist mehrere Hundert Jahre alt. Den Rest des Jahres steht sie einfacher angezogen in der kleinen Kirche. Nur zur Semana Santa, der Karwoche, wird sie so feierlich bekleidet und mit anderen Figuren der Passionszeit, die Christi Leiden und Sterben zeigen, durch die Stadt getragen.
Brauch geht auf das 17. Jahrhundert zurück
Neun Gruppen, die Bruderschaften genannt werden, bestreiten die Prozessionen, die die ganze Karwoche andauern. „Die Ursprünge des Brauchs liegen um das Jahr 1600“, erzählt Führerin Mara Castaño. „Es ist nicht nur Religion, sondern auch Tradition.“ Ziel sei es, das Opfer Jesu deutlich zu machen.

„Unsere Bruderschaft ist die zweitälteste“, sagt del Campo und stützt sich dabei auf seinen Prozessionsstock. In der Bruderschaft dürfen trotz ihres Namens auch Frauen und Kinder mitmachen, allerdings erst seit etwa 20 Jahren. Bei Luis del Campo ist die ganze Familie mit dabei, ebenso bei Carmen Calvo, die mit ihm und vielen Jugendlichen in der Kirche arbeitet.
Die Figuren zu tragen, sei eine Ehre, ergänzt Mara Castaño noch. Besonders beeindruckend sind die Nachtprozessionen, wenn das Licht in der Stadt gedämpft wird. Kerzen und Fackeln der Bruderschaften prägen dann den Ort. Eine fast überzeitliche Atmosphäre liegt über dem Städtchen.

Um zwölf Uhr mittags summt die Stadt wie ein Bienenstock. Am Rathausplatz stehen verschiedene Gruppen in bunten Büßergewändern; auffällig sind die hohen Spitzhüte, die nur die Augen freilassen. Sie sollen, so eine Theorie, das Gesicht des Büßers gegenüber seinen Mitmenschen verhüllen. Denn Gott sieht ja ohnehin, wer darunter steckt, hat man uns erklärt. Wer besonders viel abzubüßen habe, gehe den Prozessionsweg außerdem barfuß. Wir werden später einige Teilnehmer mit nackten Füßen sehen.
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Auf der Balustrade vor dem Rathaus stehen Vertreter mehrerer Bruderschaften. Man sieht weiße, rote, grüne und lilafarbene Spitzhauben. Normalerweise wird zu diesem Fest auch immer ein Strafgefangener freigelassen, dieses Jahr aber haben die Behörden niemanden benannt. Dann beginnt die Prozession, mit Reitern, Musik und verschiedenen Wagen.

Der leidende Christus am Kreuz wird entlang der Straßen getragen, dann folgen andere Figuren aus der Passionsgeschichte. Die Zuschauer schauen leise, fast ehrfürchtig zu. Kein Gejohle, kein Geschrei. Das sei, so erzählt unsere Führerin, in manchen anderen Städten etwa in Andalusien anders. Da werde bei einer besonders ansehnlichen Marienfigur schon mal gerufen: „Wie schön sie ist!“
Leise, fast ehrfürchtig
Hier in Palencia aber ist es ruhig. Die Menschen schauen stumm und ernst auf den Umzug auf den Straßen, der das Leiden und Sterben Christi so hautnah thematisiert. Dann nähert sich allmählich die traurige Figur der Maria de la Soledad.
Da bleibt ein hochgewachsener Mann mit schwarzer Büßerhaube stehen. Er winkt uns freundlich zu; wir erkennen ihn gleich. Luis del Campo und seine Mitbrüder sind unterwegs bei der Prozession, auf die sie ein ganzes Jahr hingearbeitet haben.

Nach der Prozession aber wird in den Restaurants und Bars der Stadt getafelt. Das Beste kommt auf den Tisch, viel Lamm, wie überall auf der Welt zur Osterzeit. Dazu genießen die Spanier einen Ribera del Duero aus der Region Castilla y Leon, einer der besten Rotweine, die Spanien kennt.
Die Büßer mit ihren Hauben gibt es in den Bäckereien auch als süße Teigfigürchen zu kaufen; sie erinnern an die Nikoläuse bei uns zur Weihnachtszeit. Denn so ernst die Prozession auch ist: Wenn sie vorbei ist, werden in Palencia das Leben und seine süßen Seiten gefeiert.
Dieser Reisebericht entstand mit Unterstützung durch das Spanische Fremdenverkehrsamt München.