Die christliche Gemeinde aus Hermannsdorf und dem Weiler Kuche hatte sich auf dem Friedhof in Bitz auf der Schwäbischen Alb versammelt, um Johannes Stiefel, einem Bauern von der Kuche, die letzte Ehre zu erweisen. Wer war der Tote und was war passiert?
Der Tote war wie weitere 19 Siedler um 1800 einem Ruf des Fürsten von Hohenzollern-Hechingen gefolgt und hatte sich mit seiner Familie auf dem Weiler Kuche niedergelassen. Er war 62 Jahre alt und lebte mit seiner Familie seit nunmehr 43 Jahren hier. Heute – am 31. Januar 1843 – hatte er mit Ross und Schlitten einen langen Weg hinter sich gebracht und eine Kuh auf dem Hechinger Viehmarkt verkauft.
Nach dem langen Tag kehrte Johannes, gerade mal noch eine Viertelstunde von seinem Hof entfernt, im Gasthaus Waldhorn ein. Kaum hatte der Alte die Wirtschaft betreten, geriet der Stiefel in einen Streit. „Halt dei Gosch – du Seckel, und zahl mol einen“, brüllte der Jakob Egle in die Runde hinein. Der Egle hatte den Stiefel gemeint, weil jeder wusste, dass er in Hechingen ein Stück Vieh verkauft und deshalb Geld im Sack hatte.
Der Streit eskalierte und der Egle wollte gerade aufstehen, um seinen Unmut gegenüber dem Stiefel zum Ausdruck zu bringen, wurde aber von seinem Bauern, dem Strobel, zurückgepfiffen. „Hinsitzen und Maul halta. Mir trinket no eins und dann isch alles wieder guat“, beruhigte der Strobel seinen Knecht. Aber der ließ sich schon nicht mehr im Zaum halten, stand auf, schnappte seinen Mantel und verließ wutschnaubend die Wirtschaft.
Eva-Maria wollte nur frische Luft schnappen
„Fertig“ – die letzte Kuh war gemolken und Eva-Maria, Dienstmagd beim Strobel, wollte noch etwas frische Luft schnappen. Sie schlenderte in Richtung Kuche. Eva-Maria zog ihren braunen Kittel etwas enger an sich, um die Kälte, die langsam einsickerte, auszusperren, als unvermittelt ein Riese vor ihr stand.
„Na, Maria, wo gehst du denn noch so alleine hin?“, fragte der Jakob Egle mit einem sarkastischen Unterton. „Ich brauche noch ein wenig frische Luft, ich war den ganzen Tag im Stall. Aber warum bist du hier? Normal bist du doch um diese Zeit gerne im Wirtshaus und säufst dich voll“, konterte Eva-Maria, die den Egle nicht so gern mochte, weil er so grobschlächtig war und ihr immer wieder an die Wäsche wollte.

Der Stiefel hatte sich auch wieder auf den Weg gemacht und fuhr mit dem Schlitten langsam und gemächlich in Richtung Kuche. Plötzlich hörte Johannes Schreie und bremste den Schlitten kurz ein. „Brr – Brauner, mach langsam, ich höre doch etwas.“ Und tatsächlich, die Stimme einer Frau: „Hilfe, Hilfe, lass mich, bitte lass mich!“ Johannes gab dem Braunen die Zügel frei. „Hü, Brauner, hü, lauf schneller, Brauner, lauf!“ Der Edelberg und die Schreie kamen rasch näher.
„Jetzt stell dich doch nicht so an, Eva-Maria, ich will doch nur ein wenig Spaß.“ Der „Lange Rote“ hatte die Eva-Maria mit seiner rechten Hand im Genick gepackt und sie nach vorne gebeugt. Den Rock hatte er ihr schon zuvor nach vorne über den gebeugten Rücken aufgeschlagen, sodass Eva-Maria ihm ihr nacktes Gesäß entgegenstreckte. Der „Lange Rote“ nestelte an seiner Hose, als plötzlich und unvermittelt der Stiefel neben ihm stand. „Lass die Eva-Maria in Ruhe, wenn sie nichts von dir will, sonst kriegst du es mit mir zu tun, du Taugenichts.“
Der „Lange Rote“ erschrak für einen kurzen Moment und ließ das Mädchen los. Eva-Maria nutzte ihre Chance, rannte so schnell sie konnte in Richtung Hermannsdorf los und ließ die unheimliche Szenerie hinter sich. Übrig blieben Jakob Egle und Johannes Stiefel. Johannes war klar, dass er einem Riesen gegenüber stand, der mehr als zweimal so jung war wie er und stärker.
„Was bist du nur für ein schlechter Mensch?“, war der Einstieg in eine vorsichtige Standpauke, die der Stiefel dem „Langen Roten“ jetzt halten wollte. Der aber holte aus und schlug dem Stiefel mit der rechten Faust mitten ins Gesicht. Johannes taumelte und fiel in Richtung Schlitten, rappelte sich auf und wollte sich wehren. Er hatte mit dem Schlag nicht gerechnet.
Die Wucht des Schlags ließ die Schädeldecke platzen
Kaum aufgestanden, war der Jakob Egle schon wieder über ihm und versetzte ihm einen zweiten Schlag. Johannes fiel rücklings ins Geschirr zwischen Ross und Schlitten. Er drehte sich um, tastete nach etwas, womit er sich wehren konnte, und bekam den Deichselnagel in seine Finger. Er zog daran, bekam ihn zu fassen und schlug gegen den Angreifer.
Der war aber deutlich jünger, schneller und weitaus geübter im Schlägern als der alte Stiefel. Kaum sah er den Deichselnagel auf sich zukommen, wehrte er den ungenau geführten Schlag ab, entriss dem Stiefel den Nagel und rammte ihn mit voller Wucht dem Stiefel ins Gesicht, das ihn zuerst ungläubig und dann leblos anstarrte. Die Wucht des Schlages hatte die Schädeldecke platzen lassen. Johannes Stiefel war sofort tot.
Die preußisch-fürstliche Gendarmerie rückte an und übernahm die Ermittlungen in dem Mordfall. Egle wurde rasch identifiziert und zur Fahndung ausgeschrieben.
Fahndung nach dem Mörder Jakob Egle
Am Samstag, dem 11. Februar 1843, wurde im Verordnungs- und Intelligenzblatt für das Fürstenthum Hohenzollern-Hechingen folgender Eintrag veröffentlicht: „Hechingen. (Fahndung) Hinsichtlich des hiernach signalisierten Jakob Egle, von Burgfelden, Oberamts Balingen, Dienstknecht bei dem Pächter Georg Strobel von Hermannsdorf, welcher Jakob Egle sich wegen Ermordung des Johann Stiefel von der Kuche, Gemarkung Hermannsdorf, flüchtig gemacht hat und deshalb unter dem 3. dieses zur Fahndung ausgeschrieben worden ist, wird anmit bekannt gemacht, daß die Fahndung noch zu keinem Resultat geführt hat, und die Vogtämter deshalb ihre Fahndungsversuche fortzusetzen und nach Möglichkeit die Erforschung und Einlieferung des gedachten Jakob Egle zu bewirken haben.“
Beschrieben wurde der Gesuchte so: „Signalement des Jakob Egle, Alter 28 Jahre, Größe 6‘2‘‘ (188 cm), Statur mittlere, Angesicht oval, Haare röthlicht, Stirne bedeckt, Augenbrauen röthlicht, Augen grau, Nase klein, Mund proportioniert, Zähne gut, Kinn rund, Beine gerade. Bei seinem Entweichen war er bekleidet mit einer schwarzen baumwollenen Zipfelmütze, schwarzem Halstuch, weißer blaugeblümter Weste, weiß-blauem Tuchwams, graulichen Manchester Beinkleidern und Halbstiefeln. Möglicherweise könnte er gegenwärtig einen blauen Oberrock tragen.“
Egle wurde laut verschiedener Recherchen nie gefasst. War angeblich nach Amerika geflohen und soll auf dem Totenbett die Tat gestanden haben. Aber seine wahre Geschichte war eine andere.

Im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart schlummerte eine Akte, die sich mit einem diplomatisch hochkomplexen Fall und einem gewissen Giacomo Boss oder Bass befasste. Jakob Egle war nicht nach Amerika geflohen, sondern hatte sich über den Heuberg zunächst an den Bodensee abgesetzt und war von dort in die Schweiz geflohen.
Dort hatte man ihn, zusammen mit einem Florian Rädle, der ihn später verriet, für das Zweite Päpstliche Fremdenregiment angeworben und nach Bologna versetzt. Er diente als Grenadier und war damit dem Arm der Strafverfolgung entkommen, und eigentlich wäre die Geschichte hier zu Ende. Aber Florian Rädle wurde mehrere Jahre später aus der Päpstlichen Armee entlassen und kehrte von Bologna nach Hechingen zurück. Dort verriet er den Jakob Egle, alias Giacomo Boss oder Bass, und löste einen ungewöhnlichen diplomatischen Fall aus.
Was revolutionäre Umtriebe mit dem Fall zu tun haben
Denn Italien existierte zu dieser Zeit noch nicht, stattdessen gab es auf dem Gebiet des heutigen Staates kleine und mittlere Grafen- und Fürstenhäuser sowie den mächtigen Kirchenstaat. Warum beschäftigte sich die Fürstliche Geheime Konferenz von Hechingen mit diesem alten Fall?
Der Grund waren revolutionäre Umtriebe, die sich nach und nach in ganz Europa einnisteten und die feudale Gesellschaftsform in Frage stellten. Die damaligen Herrscher wollten unter anderem mit einem solchen Vorgehen den Untertanen beweisen, dass ihnen das Schicksal der Untertanen nicht egal war und sie sich für sie interessierten. Deshalb wandte sich die Geheime Konferenz an das Königshaus Württemberg. Von dort wurde der Gesandte in Rom beauftragt, sich der Sache pro Forma anzunehmen.
Der Gesandte Konsul von Kolb schrieb im Auftrag der württembergischen Regierung einen Inhaftierungsantrag an den Apostolischen Palast. Das Schreiben wurde dem von Papst Pius IX. eingesetzten Staatsekretär Kardinal Ferreti vorgelegt. Ferreti ordnete entgegen aller Gepflogenheiten ohne Rücksprache mit dem Kardinalskollegium und seiner Heiligkeit die Arretierung des Soldaten an und löste damit innerhalb seines Hauses einen diplomatischen Eklat aus. Damit schuf er die Voraussetzungen für das fast Unmögliche.
Obgleich Rom kein Auslieferungsabkommen mit dem württembergischen Königreich hatte, setzte Ferreti die Maschinerie in Gang. Er vereinbarte aus eigener Motivation heraus über den Konsul von Kolb eine Strafmilderung für den Hauptprotagonisten. Denn er wusste, dass der Papst die Todesstrafe nicht akzeptierte, und diese war damals in Württemberg noch nicht abgeschafft worden.
Württemberg sagte dem Ersuchen zu und wandelte zunächst ohne Hauptverhandlung gegen den in Bologna inhaftierten Mörder Jakob Egle die Todesstrafe in eine mehrjährige Freiheitsstrafe um. Dann ging es nur noch um den Transport und die Kostenübernahme. Das württembergisch-königliche Außenministerium wandte sich an den Reichskanzler von Österreich mit der Bitte, den Transport zu genehmigen, da er von Bologna aus über mehrere von den Habsburgern besetzte Gebiete gehen sollte.
Wie es mit Jakob Egle in Haft weiterging
Reichskanzler Fürst von Metternich ließ folgenden Brief formulieren: „An die löbliche Königlich Württembergische Gesandtschaft Promemoria, Mit Beziehung auf das schätzbare Promemoria vom 20. December 47 beehrt sich der unterzeichnende Hof und Staatskanzler die löblich Königlich Württembergische Gesandtschaft zu benachrichtigen, daß dem darin ausgesprochenen Wunsche gemäß das K. K. Festungskommando zu Ferrara durch die oberste K. K. Militärbehörde angewiesen worden ist, den einer Tödtung verdächtigen, in päpstlichen Dienste stehenden Württ. Unterthanen Jakob Egle von den päpstlichen Behörden zu übernehmen und denselben nach Rovigo eskortiren zu lassen, um alldort mit dem Ausweise über die aufgelaufenen Kosten der K. K. Polizei-Behörde zur Veranlassung des Weiter-Transportes bis an die K. Bayer. Grenze übergeben zu werden.“
Und weiter: „Nachdem die oberste K. K. Polizei-Behörde von dieser Verfügung in Kenntnis gesetzt worden ist, um die entsprechende Weisung an die ihr unterstehenden Behörden zu erlassen, sieht sich der Unterz. in Folge eines, von ihr in dieser Beziehung ausgedrückten Wunsches in dem Falle, hochdieselben zu ersuchen, ehemöglichst nach diesfall erfolgter Rückspache der K. Württ. mit der K. Bayer. Regierung anher eröffnen zu wollen, auf welchem Punkte der Bayer. Grenze und an welche dortländische Behörde Jakob Egle behufs seiner Weiterbeförderung nach Württemberg übernommen wird. Wien, 4. Febr. 1848, gez. Metternich, begl. Lentrum“
Der Mörder kam nie wieder auf freien Fuß
Mit Datum vom 22. Mai 1849 taucht in den Akten ein Bericht des Königlichen Gerichtshof in Tübingen auf, dass der Fall registriert sei. Aus den Akten ergibt sich weiterhin, dass Jakob Egle wegen vorsätzlicher Körperverletzung und dadurch verschuldeter Tötung zu vierjährigem Arbeitshaus verurteilt wurde.
Aus den Gefangenenhauptbüchern der Strafanstalt Ludwigsburg geht hervor, dass Jakob Egle am 18. März 1850 eingeliefert worden war. Seine Strafe hätte am 14. März 1854 geendet. Tatsächlich starb er im Gefängnis am 19. Dezember 1851. Eine unglaubliche und doch wahre Geschichte und in jedem Fall kein Geständnis auf einem Totenbett in Amerika.