Läuft hier etwas schief? Jeder zehnte junge Erwachsene in Deutschland zwischen 18 und 29 Jahren kann laut einer Umfrage der Jewish Claims Conference mit dem Wort Holocaust nichts anfangen und weiß nicht, dass sechs Millionen Juden dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. In Österreich liegt der Anteil bei 14 Prozent der Befragten, in Frankreich sogar bei 46 Prozent.

Verflüchtigt sich 80 Jahre nach der Befreiung des Todeslagers von Auschwitz durch die Rote Armee die Erinnerung an den industriellen Massenmord in den Gaskammern der SS? Müssen die letzten Überlebenden und Zeitzeugen in dem Bewusstsein sterben, dass Antisemitismus, Nationalismus und Extremismus wieder auf dem Vormarsch sind? Haben wir aus der Geschichte doch nicht genug gelernt?

Die Unkenntnis des Holocaust führt zunächst zu einem bekannten Reflex: Vermutet wird, dass die Schulen nicht genug dafür tun, um in den Klassen gegen das Vergessen anzuarbeiten. Das aber ist zumindest in Deutschland nicht der Fall. Zudem belegen steigende Besucherzahlen das Interesse an den Gedenkstätten des NS-Terrors. Was indes immer übersehen wird, ist eine wesentliche Unterscheidung: Wissen um die Vergangenheit ist das eine, die Erinnerung daran das andere. Umfragen reagieren darauf nicht.

Erinnerung ist Teil unserer Identität

Unsere Bildungsinstitutionen können jungen Menschen historische Kenntnisse zu den Auswüchsen des NS-Terrors vermitteln. Der Akt der Erinnerung geht jedoch als eine zweite Stufe weit darüber hinaus. Seine Dimension ist deutlich breiter. Er fließt ins Bewusstsein der Nachgeborenen ein und trägt dazu bei, eine politische, ethische oder religiöse Haltung zu formen, um die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft zu bestehen. Erinnerung steht damit weit über dem Buchstabenwissen. Sie prägt unsere Identität.

Unbestritten ist, dass sich die Form von Erinnern und Gedenken seit 1945 stark gewandelt hat, denn sie kann nicht wie bei einem Staffellauf einfach an die nächste Generation durchgereicht werden. Daher muss uns das allmähliche Aussterben der Zeitzeugen nicht besorgt machen.

Die authentischen Orte des Schreckens werden bewahrt, sich immer wieder neu und pädagogisch anders mit ihnen zu beschäftigen, ist eine Daueraufgabe, die seit Gründung der Gedenkstätten-Museen Mitte der 60er-Jahre geleistet wird. Neue Filme, Dokumentationen und Bücher begleiten diesen Wandel, für den die für Netflix verfilmte Erzählung „Der Tätowierer von Auschwitz“ ein aktuelles und gutes Beispiel ist.

Einigung Europas ist eine Konsequenz aus dem Völkermord

Die Kultur leistet die Auseinandersetzung mit dem Völkermord. Aus dem Blick gerät ein anderer Aspekt, der aufgrund der multiplen Krisenlage unserer Zeit in den Fokus rücken müsste. Es ist das Bewusstsein, dass die Befriedung und Einigung Europas letztlich auch eine Konsequenz aus Hitlers Krieg und Völkermord ist.

Diese Tatsache verflüchtigt sich zunehmend aus den Köpfen, ja schlimmer noch: Der Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus, Rassismus und Hass, der Ausbau des Völkerrechts, der Stellenwert der Versöhnung, die Organisation von gemeinsamer Sicherheit und Gerechtigkeit unterliegen immer stärkeren Anfeindungen. Die Gefahr ist, dass nicht nur Auschwitz aus unserer politischen DNA verschwindet, sondern auch der kulturelle Fortschritt, der aus der Erfahrung der Shoah entstanden ist.

Die Werte der Nachkriegszeit in Europa müssen wieder gelebter Teil unserer Identität werden. Wenn die Stationen, die nach Auschwitz führten – Entrechtung, Vertreibung, Ausplünderung, Mord – in Erinnerungsformen gegenwärtig werden, können diese dazu beitragen, dem aufsteigendem Populismus und den oft hasserfüllt vorgetragenen fremdenfeindlichen Narrativen die Stirn zu bieten.

Gemäß dem vielen Demonstrationen vorangestellten Motto „Nie wieder ist jetzt!“ Auschwitz wird dabei ein zentraler Erinnerungsort bleiben, weil dieser Ort ein primäres Gefühl vermittelt: Fassungslosigkeit.