Sie lebt von Stunde zu Stunde – in Tagen oder Jahren denkt sie nicht. Sie ist keine alte Frau, hat das Leben noch vor sich. Doch Nadia Murad kann es nicht planen wie andere 23-Jährige. Was die junge Irakerin erlebt hat, lässt sie nicht los. Sie konnte sich aus IS-Gefangenschaft befreien. Sie und ihre Schwester gehören zu den 1100 traumatisierten Frauen und Kindern, die das Land Baden-Württemberg in Sicherheit gebracht hat. Anstatt sich um die eigene Zukunft zu kümmern, hat Nadia Murad den Kampf gegen den IS-Terror aufgenommen. „Ich will Zeugnis darüber ablegen, was tatsächlich im Irak passiert und welche Verbrechen der IS begeht.“
Die junge Frau, die lediglich medizinische, kaum therapeutische Versorgung in Deutschland in Anspruch nahm, bittet als Menschenrechtsaktivistin um Hilfe für die immer noch mehr als 3000 verschleppten Leidensgenossinnen; im Dezember vergangenen Jahres sprach sie sogar vor dem UN-Sicherheitsrat.
Nun verlieh der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Nadia Murad in New York als „kämpferische und rastlose Verfechterin des jesidischen Volkes“ den Titel Sonderbotschafterin im Kampf gegen Menschenhandel. Begleitet wurde die 23-Jährige von der Anwältin Amal Clooney, Ehefrau von Hollywoodstar George Clooney. Die 38-Jährige hat sich der Sache der gequälten Jesidinnen angenommen. Sie will die Peiniger vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen. Um sich einen Eindruck von der Lage der Jesidinnen in Baden-Württemberg zu machen, kam Amal Clooney unter anderem auch nach Stuttgart. Dort traf sie sich mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). „Wir sind dankbar, dass Frau Clooney Frau Murad als Beraterin zur Seite steht. Sie trägt mit ihrem Ansehen und ihrer Bekanntheit dazu bei, dass die Verbrechen auch tatsächlich geahndet werde“, sagte Kretschmann.

Nadia Murad will nicht nur ein Opfer des IS sein. Mit allen ihr verfügbaren Mitteln versucht die furchtlose Jesidin, Alliierte im Kampf gegen die Versklavung ihrer Glaubensschwestern im Nordirak durch die Terrormiliz zu gewinnen. Basis für ihr internationales Engagement ist ein unbekannter Ort im deutschen Südwesten.
Nadia Murad hat momentan nur eines im Kopf: „Ich bin zufrieden, wenn ich Leben retten kann und wenn es nur eines ist, und ich möchte das Leid in den Flüchtlingscamps lindern.“ Der Leiter der Projektgruppe Sonderkontingent Nordirak im Stuttgarter Staatsministerium, Michael Blume, sagt: „Mit Menschenrechtsarbeit verarbeitet sie ihre Traumata.“ Der medizinisch-therapeutische Leiter des Hilfsprogramms in Baden-Württemberg, Jan Ilhan Kizilhan, fürchtet, dass die zierliche Jesidin sich überfordert. „Sie muss auf sich aufpassen.“ Sie sei andauernd auf Achse. Sei sie dann einmal allein, riskiere sie, von schrecklichen Erinnerungen überwältigt zu werden. Ihr Schicksal teilt Nadia Murad mit 7000 anderen Frauen und Mädchen die im Nordirak verschleppt wurden. Ihr Martyrium mit zahlreichen Vergewaltigungen begann auf einem Sklavenmarkt in der Millionenstadt Mossul. „Dort wurde ich verkauft. Blonde, blauäugige und hellhäutige Mädchen waren besonders gefragt“, erzählt sie mit monotoner Stimme und ohne äußerliche Gefühlsregung. Sie wirkt wie betäubt, so als ob sie den Schmerz ausgeschaltet habe. Ihrer Dolmetscherin hingegen stockt häufig der Atem, wenn sie die nüchterne Schilderung der schrecklichen Erlebnisse von der kurdischen Sprache Kurmandschi ins Deutsche übersetzt. Doch Therapeut Kizilhan weiß, wie es hinter der Fassade Nadia Murads aussieht: „Sie weint viel.“

Wie kann eine junge Frau wie sie so furchtlos in der Öffentlichkeit auftreten und damit riskieren, erneut ein Opfer des IS zu werden? „Die Angst ist bei jedem da“, sagt Nadia Murad und fügt hinzu: „Aber sie hilft nicht weiter.“ Der Tod habe seinen Schrecken verloren. „Der Tod ist harmlos im Vergleich zu der Hölle, durch die wir alle gehen mussten.“ Seitdem umhüllt die junge Frau mit den langen dunklen Haaren eine Aura der Traurigkeit.
Albträume, Konzentrations- sowie Ein- und Durchschlafstörungen, Ängste, wiederkehrende schlimme Erinnerungen nennt der Trauma-Experte Kizilhan als häufigste Symptome, die bei den Frauen und Kindern auftreten. Auch ein normales Verhältnis zur Sexualität fehle insbesondere den jungen Frauen, weil der erste Sexualkontakt mit ihren Peinigern erfolgte. „Unser Vertrauen in Männer ist grundsätzlich zerstört“, erzählt eine Leidensgenossin Nadia Murads, die ihre Erlebnisse in einem Buch verarbeitet hat.
In Deutschland können die Flüchtlinge Kunst-, Tanz- und Gestaltungstherapie erhalten und Deutschkurse belegen. „In der ersten Phase geht es darum, dass die Frauen sich stabilisieren, Sicherheit erhalten und spüren“, erklärt Kizilhan. Erst wenn dies gelungen sei, könne man damit beginnen, die Erlebnisse anzusprechen und aufzuarbeiten. In vielen Fällen würden die Wunden immer wieder aufgerissen. „Angehörige sind noch in Gefahr, oder in Massengräbern werden Verwandte gefunden“, berichtet der Professor an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen, wo er den Studiengang „Soziale Arbeit – Psychisch Kranke und Suchtkranke“ leitet. Schilderungen der Lage im Irak sind über die sozialen Medien leicht zugänglich.

Die junge Frau kam an einen Mann, der sie später weiterverkaufte. Diesem entkam sie beim Kauf einer Burka. „Ich bin herumgeirrt und einer muslimischen Familie begegnet, vor der ich zunächst große Angst hatte.“ Doch die Familie habe sie überzeugt, dass sie die Islamisten genauso hasst wie sie selbst und ihr helfen wollte. Sie erhielt falsche Papiere und kam ausgerechnet unter einer Burka unbehelligt ins kurdische Grenzgebiet, wo sie nach ihrer dreimonatigen Versklavung in einem Camp nahe Dohuk Unterschlupf fand.
Dort hörte sie im März 2015 von dem baden-württembergischen Programm und meldete sich und ihre Schwester an. „Wir hatten ja nichts und niemanden mehr.“ Ihre Mutter und sechs Brüder waren bei dem IS-Überfall umgebracht worden. Überdies seien die Bedingungen in dem Lager miserabel gewesen. „Es gab keine medizinische Versorgung, es fehlte an Nahrungsmitteln und Schlafplätzen. Wir vegetierten vor uns hin und quälten uns mit Gedanken an die Angehörigen.“
Nadia Murad ist eine der wenigen Frauen, die über ihre Qualen sprechen. „Bei orthodoxen Jesiden galt eine Frau als beschmutzt, wenn sie mit einem Nicht-Jesiden Geschlechtsverkehr hatte“, erläutert Religionswissenschaftler Blume. „Diese Ansicht machten sich die Islamisten zunutze und sagten den geschändeten Jesidinnen, dass sie ja gar nicht mehr in ihre Familie zurückkehren könnten.“ Inzwischen habe der religiöse Führer Baba Sheikh diese alte Lehre offiziell verworfen und die Frauen und Kinder des Sonderkontingents vor deren Abreise als Schwestern und Töchter gesegnet. Doch vor Ort ist die Selbstmordrate unter den IS-Opfern groß. „Wir sind total dankbar, dass wir bei unseren über 1000 Jesidinnen und deren Kinder keinen Fall von Selbstmord hatten“, sagt Blume.
Der Hass der extremistischen Sunniten auf die Jesiden ist groß. „Er rührt daher, dass sie diese für Abtrünnige und Teufelsanbeter halten“, erläutert der Religionsexperte. Dabei untersage den Jesiden ihre Religion, den Namen des Teufels überhaupt auszusprechen. „Für die Jesiden hat sich der Teufel in Gestalt des gefallenen Engels Pfau mit Gott versöhnt, was bei den Sunniten zu Missinterpretationen führt“, erklärt Blume. Nadia Murad sagt: „Unsere Religion ist in deren Augen Götzenanbetung.“ Die schon Jahrtausende alte Religion fußt auf dem Zoroastrismus und dem Mithraskult und umfasst Elemente des Christentums und des Islams. Ihr gehören heute rund 750 000 Gläubige im Irak und 200 000 in Europa und USA an.

Den religiösen Fanatismus bekam auch Nadia Murad zu spüren. Sie wurde vor ihrem Verkauf zwangsislamisiert. „Wir mussten ein Bekenntnis ablegen vor einer Art Gericht, indem wir Verse aus dem Koran vorlesen und den Namen Allahs und Mohammeds nennen mussten.“ Damit wurde sie aus Sicht ihrer Peiniger eine vollwertige Muslima. Die Frauen wurden gezwungen, zu konvertieren. Den Männern blieb die Wahl zwischen Enthauptung und Übertritt zum Islam. „Wir haben gefragt, warum macht ihr das mit uns?“, erinnert sich Nadia Murad. „Wir bekamen gesagt: Weil ihr nichts anderes verdient und das Gottes Wille ist.“
Jeside kann man nicht werden, man wird in die Glaubensgemeinschaft hineingeboren. Nach Worten Kizilhans sind in den letzten 800 Jahren 1,8 Millionen Jesiden zwangsislamisiert und 1,2 Millionen Anhänger dieses Glaubens getötet worden. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht vom Genozid an den Jesiden. „Solchen ganz schwer traumatisierten Menschen zu helfen, ist ein Gebot der Humanität und der Nächstenliebe“, begründet er die Hilfsaktion. Das Land hat für das auf drei Jahre angelegte Programm 95 Millionen Euro in den Haushalt eingestellt. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hält die Initiative für einen wichtigen und notwendigen humanitären Schritt.
Damit steht der deutsche Südwesten bislang weltweit alleine da. Angesichts fehlender Bereitschaft anderer Nationen, Terroropfer aufzunehmen, müsse die Unterstützung vor Ort verstärkt werden, meint Kizilhan. Geplant ist ein Institut für Psychotherapie in Dohuk, wo in einem ersten Schritt 30 angehende Ärzte, Sozialarbeiter und Psychologen in praktischer Psychotherapie ausgebildet werden. „Wir brauchen eine langfristige Strategie, damit die Menschen dort eine Perspektive haben.“ Terre des Femmes befürwortet dies. Denn so könnten Familienangehörige im Heilungsprozess hinzugezogen werden.
Zwei Drittel der Frauen selbst erklärten noch im Irak, dass sie an eine Heimkehr dächten, wenn es ihnen besser ginge. „Inzwischen aber haben sich die meisten – und vor allem die Kinder – zum Bleiben entschlossen“, sagt Blume. „Insbesondere die Kinder blühen auf“, hat er beobachtet.
Die Integration hat bei einigen Frauen bereits begonnen: Die ersten fanden den Weg in einen Beruf oder eine Ausbildung. Manche machen auch den Führerschein – was in ländlichen Regionen ihrer Heimat kaum möglich gewesen wäre. Nadia Murad gehört zu den Frauen, die eine Rückkehr in den Irak zumindest nicht ausschließen. Aber dafür müssten sich die Umstände dort ändern. „Der Nordirak muss vollständig vom IS befreit sein, die Täter müssen vor Gericht gestellt werden und ihre gerechte Strafe erhalten und die Jesiden in Freiheit dort leben können – alles andere wäre ein Selbstmordkommando.“
Die Initiative des Landes
- Betroffene: Rund 1000 durch den IS traumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak sind 2015 und Anfang 2016 auf Initiative von Ministerpräsident Winfried Kretschmann nach Baden-Württemberg gekommen.
- Unterkunft: Die Menschen fanden Aufnahme in 21 Städten und Gemeinden zwischen Main und Bodensee.
- Kosten: Das Land übernimmt die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Gesundheit – also auch Traumatherapien. Für drei Jahre wurden 95 Millionen Euro bereitgestellt.
- Ebenfalls engagiert: Auch Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben laut Staatsministerium in Stuttgart insgesamt rund 100 schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak aufgenommen. (dpa)
„Die Opfer des Völkermordes fühlen, dass die restliche Welt ihr Leid ignoriert“
Amal Clooney, 38, Menschenrechtsanwältin und Frau von Hollywood-Star George Clooney, kämpft an der Seite der künftigen UN-Sonderbotschafterin Nadia Murad gegen Menschenhandel. Sie will die IS-Terroristen vor Gericht bringen und die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Jesidinnen lenken. Im Interview erzählt sie, weshalb sie Nadia Murad vertritt
Frau Clooney, was wollen Sie mit Ihrem Engagement für die missbrauchten Jesidinnen erreichen?
Die Jesiden haben mich gebeten, sicherzustellen, dass der IS für den von ihm begangenen Völkermord zur Rechenschaft gezogen wird. Ich habe Nadia Murad gefragt, was ihre größte Angst ist. Sie sagte: „Ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass wenn der IS besiegt ist, seine Mitglieder sich lediglich ihre Bärte scheren und durch die Städte spazieren, als ob nichts passiert wäre.“ Ihre Verbrechen müssen verfolgt werden – das wollen die Opfer. Und der Völkermord hat ja noch nicht aufgehört. Wir glauben, dass noch 3200 Frauen und Kinder von dem IS als Sklaven gehalten werden. Wir haben hier in Deutschland von Müttern gehört, dass ihre Töchter mitgenommen wurden – aber sie wissen nichts über ihren Verbleib.
Wie sieht die rechtliche Seite aus?
Obwohl die UN die Verbrechen gegen die Jesiden als Völkermord anerkannt hat, gibt es im Moment kein internationales Gericht, das IS-Mitglieder zur Verantwortung ziehen kann. Wir arbeiten gerade daran, dass der Sicherheitsrat eine internationale Ermittlung startet und dann Beweismaterial an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag schickt oder zu einem neu-geschaffenen Gericht in Den Haag.
Warum wird Ihrer Meinung nach so wenig gegen die Verbrechen an den Jesiden getan?
Ich kann es nicht erklären. Das ist Teil meiner Empörung. Wir wissen ja, wer für den Völkermord verantwortlich ist. Der IS brüstet sich online für seine Gräueltaten. Manche tauschen sich in Videos über ihre jesidischen Sklavinnen und ihre Präferenz für die mit blauen Augen aus. Dass Deutschland die Augen nicht verschlossen hat und Opfer aufgenommen hat, ist sehr wichtig. Die Opfer des Völkermordes fühlen, dass die restliche Welt ihr Leid ignoriert.
Ein Kollege von mir, der beim Internationalen Strafgerichtshof arbeitete, sagte mir: „Ich habe einen möglichen neuen Fall für Dich.“ Ich sagte, dass ich wegen zu viel Arbeit keinen neuen Klienten annehmen könne. Er bat aber erneut nur um eine Stunde meiner Zeit. „Da ist eine junge Frau, die Du kennen lernen solltest.“ Ich hatte Nadia Murads Rede vor der UN gehört. Ich hatte auch Berichte über die Situation der Jesidinnen gelesen. Als ich Nadia traf, bat sie um meine Hilfe, und ich konnte mich nicht mehr entziehen. Mich inspirierte vor allem ihr Mut.
Was haben Sie während Ihres Aufenthaltes in Baden-Württemberg gemacht?
Ich habe Berichte von sehr jungen Überlebenden erhalten, die unaussprechliche Brutalität erlebt haben. Ich habe auch jesidische Frauen in ihren Unterkünften besucht, die Baden-Württemberg im Rahmen seines Sonderprogramms bereitgestellt hat. Dieses Programm hat ihnen Hoffnung, einen neuen Start im Leben gegeben. Es zeigt, dass auch eine kleine Zahl von Menschen mit Engagement einen Unterschied machen kann. Ich bin sehr dankbar dafür – auch im Namen von Nadia Murad und allen Frauen, die hier Schutz erhalten haben.
Fragen: Julia Giertz, dpa