„In Baden-Württemberg war ich sicher", sagte Nadia Murad gestern in Oslo. Heute erhält die Jesidin den Friedensnobelpreis. 2015 war sie über das Hilfsprogramm für jesidische Frauen und Mädchen nach Baden-Württemberg gekommen. Bei der Nobelpreis-Zeremonie in Oslo ist Ministerpräsident Winfried Kretschmann ihr persönlicher Gast. SÜDKURIER-Korrespondentin Ulrike Bäuerlein hat ihn kurz vor der Zeremonie zum Interview getroffen.

Herr Kretschmann, auf Ihre Initiative ist auch Nadia Murad nach Deutschland gekommen. Wie fühlen Sie sich heute, an dem Tag, an dem sie den Friedensnobelpreis erhält?
Das ist ein ungemein bewegender Tag. Es macht einen wirklich glücklich. Es war richtig und wichtig, ihr und ihrem Volk zu helfen, es ist die richtige Frau, die heute den Friedennobelpreis erhält. Und es ist ein großes Signal, dass Völkermörder nicht den Sieg davontragen, dass sie nicht ungeschoren bleiben und dass sie vor Gericht kommen. Das ist ein ganz wichtiger Tag, nicht nur für Nadia Murad und ihr Volk, sondern für uns alle.
Wie erleben Sie Nadia Murad heute?
Sie ist nach wie vor eine zurückhaltende bescheidene Frau, der man diese Kraft gar nicht so zutraut. Aber die kommt wirklich aus der Tiefe ihres Inneren heraus, man spürt diese Kraft. Aber man spürt auch, dass ihr und ihrem Volk wirklich Schlimmes angetan wurde. Nach dem, was wir von den Nazis wussten, habe ich überhaupt nicht geglaubt, dass es so etwas noch einmal geben könnte. Es ist berührend und deprimierend zugleich, dass es solche Taten in der Menschheit überhaupt noch gibt, solche Fanatiker und Terroristen.
Was wünschen Sie Nadia Murad?
Ich wünsche ihr und ihrem Volk, dass sie ihre schweren Erlebnisse überwinden können und tatsächliche eine neue Heimat finden. Ihre Aussage, dass sie bei uns eine zweite Heimat gefunden hat, freut mich auch als baden-württembergischer Ministerpräsident besonders. Dass die jungen Frauen sehr strebsam sind, Berufe ergreifen und auf diesem Weg auch etwas zurückgeben wollen, ist sehr ergreifend. Man spürt und sieht: Es ist richtig, was man da tut. Menschen eine zweite Heimat geben, oder, wie eine Frau heute gesagt hat, ein zweites Leben. Wenn wir als wohlhabende Region so etwas tun können, ist es gut. Und wir uns auch immer dazu verpflichtet fühlen, Menschen, die so in Not sind, helfen zu können und ihnen dieses zweite Leben zu schenken, wenn sie so Schlimmes erlebt haben.
Wie kam es eigentlich, dass Sie von dem Schicksal der Jesiden erfahren haben?
Auf einer Fraktionssitzung in Berlin hatten wir eine jesidische Delegation, die sehr anschaulich berichtet hat, wie es im Irak zugeht. Und dann haben sie ein Fotobuch mitgebracht, das konnte ich gar nicht zu Ende anschauen. Ich dachte, ich bin in einem Horrorfilm, so fürchterliche Bilder waren das. Da war klar: Wir müssen wirklich etwas tun. Damit kam es zu dem Sonderkontingent, das wir beschlossen haben. Die Bundesregierung hat das genehmigt, so konnten wir sehr vielen Frauen helfen. Die meisten von ihnen waren Jesidinnen. Unsere Mitarbeiter waren im Irak, das war schon ein gehöriger Kraftakt, weil wir als Bundesland ja eigentlich keine Außenpolitik machen. Da muss ich auch meinen Mitarbeitern sehr herzlich danken, dass sie das Risiko auf sich genommen haben, dorthin zu gehen, um das zu organisieren, dass diese Menschen zu uns nach Deutschland und Baden-Württemberg kommen können.
Es gab ja auch Kritiker, die gesagt haben, dass es nicht der richtige Schritt ist, die Frauen dort herauszuholen. Hatten Sie je den leisesten Zweifel daran, dass es richtig ist, was Sie tun?
Nicht eine Sekunde. Wir waren ja sehr gut über die Menschen informiert und darüber, was in dieser Region abgeht. Heute sind wir ja auch dort und versuchen zu helfen. Aber erst mal muss man den Menschen die Chance geben, diesen Ungeheuerlichkeiten zu entfliehen, damit sie auch dann von draußen etwas tun können. Das tut ja Nadia Murad. Das war wichtig und richtig und ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass wir das tun müssen.
Wie geht es mit den Jesidinnen im Land weiter?
Das hängt natürlich von der Entwicklung im Irak ab. Aber denen, die hierbleiben wollen, denen bieten wir wirklich eine zweite Heimat an. Und ich habe mich sehr gefreut, von vier Frauen, die Nadia Murad hierher begleitet haben, ihre Berufswünsche zu hören. Eine will Erzieherin werden, das ist ja etwas, das wir sehr gut brauchen können. Wir wollen jedenfalls alles dazu tun, was wir können, damit sie hier Fuß fassen und ihre Erlebnisse und Traumatisierungen überwinden können.
Was denken Sie über den Weg, den Nadia Murad genommen hat?
Ich denke, solche Menschen sind einfach große Vorbilder für die Menschheit. Sie sind Beispiele für Mut und die Überwindung eines Schicksals. Solche Beispiele braucht die Menschheit, sonst müsste man an vielem, was passiert, verzweifeln. Und wenn solche starken Menschen ihr grausames Schicksal überwinden, ist das ein Beispiel für uns alle, auch in schweren Zeiten nicht aufzugeben und gegen das Unrecht zu kämpfen. Darum dürfen wir uns alle freuen über diesen Friedensnobelpreis.
Fragen: Ulrike Bäuerlein und Katharina Thoms