Die Debatte ist nicht mehr aufzuhalten: Bundesjustizministerin Christine Lambrecht hat mit ihrem Aufruf an die Länder, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maskenpflicht zu klären, einen Stein ins Rollen gebracht. Ausgerechnet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn versucht die Debatte nun für sich zu nutzen und stellt sich plötzlich an die Spitze derer, die ein baldiges Ende der Maskenpflicht herbeirufen. Aber was halten Experten von solchen Forderungen? Wir haben mit einem Virologen gesprochen, der dafür nur bedingt Verständnis zeigt.

Herr Stürmer, unsere Justizministerin hat die Länder darum gebeten, die Verhältnismäßigkeit der Maskenpflicht zu prüfen, unser Gesundheitsminister Jens Spahn spricht schon von stufenweisem Abbau. Ist die Debatte um die Aufhebung der Maskenpflicht verfrüht?

Für eine generelle Abschaffung ist es noch zu früh, aber eine partielle Aufhebung der Maskenpflicht, gerade im Freien, halte ich für vertretbar. Wenn man das vernünftig gestaltet, bestimmte Risikosituationen erkennt und gegensteuert, sollte das ein machbarer Schritt hin zu ein bisschen mehr Normalität im Alltag sein.

Was für Risikosituationen meinen Sie? Wo braucht es auch draußen noch die Maskenpflicht?

Gerade jetzt mit der EM und Public Viewing sollte man vorsichtig sein. Da sitzt man ja nicht still: Wenn Menschen eng zusammensitzen oder stehen und keine Maske tragen, gemeinsam jubeln und sich in die Arme fallen, dann könnte es zu Tröpfcheninfektionen kommen.

Virologe Martin Stürmer sieht ein vorzeitiges Ende der Maskenpflicht kritisch. Die Pandemie ist noch nicht vorbei und noch sind nicht ...
Virologe Martin Stürmer sieht ein vorzeitiges Ende der Maskenpflicht kritisch. Die Pandemie ist noch nicht vorbei und noch sind nicht genug Menschen vollständig geimpft, warnt er. | Bild: Stürmer

Was ist mit der Außengastronomie? Beim Konsumieren muss man ja keine Maske mehr tragen...

Auch da gilt: Wenn die Tische zu eng zusammenstehen, wenn sich die zusammensitzenden Gruppen verändern, dann kann es auch hier zu Tröpfcheninfektionen kommen, man sitzt ja nicht schweigend gegenüber. Aerosole spielen hier keine Rolle.

Was ist mit Großveranstaltungen wie Konzerten?

Auch hier hängt viel davon ab, wie sie gestaltet werden. Wie häufig kommt es vor, dass sich Menschen mit wechselnden Kontakten mindestens über 15 Minuten innerhalb von anderthalb Metern bewegen? Denn da fängt es dann an, riskant zu werden. Deshalb sollte schon in den Konzepten berücksichtig werden, dass die Kapazitäten nicht voll ausgereizt werden. Das muss man weiterhin so kalkulieren. Wenn die Maskenpflicht nicht eingehalten wird, ist es umso wichtiger, dass der Abstand gewahrt wird, im Freien ist das nach wie vor das A und O.

Wo ist auch draußen eine Maskenpflicht noch sinnvoll? Braucht es beispielsweise noch eine Maskenpflicht in Fußgängerzonen oder auf dem Wochenmarkt?

Es ist sicher so, dass die Fußgängerzone an sich unkritisch ist. Auf dem Wochenmarkt geht es natürlich oft relativ eng zu. Ich denke, beides ist situativ einzuordnen. Natürlich ist die Ansteckungsgefahr über Aerosole auch da nicht so hoch, aber man muss aufpassen, dass man die Kontakte und Enge so kurz wie möglich hält. Das bedeutet, vor den Ständen ausreichend Abstand zu halten. Dann würde ich es unkritisch sehen, keine Maske zu tragen. Grundsätzlich gilt aber natürlich: Jeder kann unabhängig von den Regeln oder Aufhebungen entscheiden, ob er die Maske trotzdem zum Schutz tragen will.

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Wie groß ist die Ansteckungsgefahr draußen eigentlich generell?

Grundsätzlich müssen wir uns im Freien über Aerosole nicht so viele Gedanken machen, hier spielen eher Tröpfcheninfektion eine Rolle bei den Ansteckungen. Wie hoch die Ansteckungsgefahr ist, hängt von den Inzidenzen ab. Derzeit haben wir fallende Inzidenzen, erstmals sogar nur dreistellige Neuinfektionen. Je geringer die Inzidenzen, desto kleiner ist natürlich die Wahrscheinlichkeit, sich im Freien anzustecken. Umgekehrt ist es natürlich genauso, je höher die Inzidenz, desto größer ist auch das Risiko, sich im Freien anzustecken.

Die Maskenpflicht in Innenräumen halten Sie aber nach wie vor für unentbehrlich?

Innenräume bergen nach wie vor das größte Risiko für Ansteckungen. Natürlich können wir jetzt mit den wärmeren Temperaturen mehr lüften. Das gibt etwas mehr Sicherheit. Trotzdem sollte die Maskenpflicht dort beibehalten werden. Ich sehe sie in Innenräumen als die letzte Bastion, die fallen sollte.

Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Debatte für sich nutzen und spricht sich für ein baldiges Ende der Maskenpflicht aus.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Debatte für sich nutzen und spricht sich für ein baldiges Ende der Maskenpflicht aus. | Bild: via www.imago-images.de

Wie sinnvoll ist es dann aus Ihrer Sicht, die Maskenpflicht in den Schulen abzuschaffen, jetzt, wo wieder alle im Präsenzunterricht sind? Spricht etwas dagegen?

Die Maskenpflicht in den Schulen aufzuheben, würde ich jetzt tatsächlich noch nicht empfehlen. Dafür ist es noch zu früh. Man sollte erst einmal Konzepte etablieren. Lüften ist nicht die große Kunst, aber es braucht dann mehr als das: eine ausgefeilte Teststrategie und die Vergewisserung, dass die Menschen im Umfeld der Schüler – vom Lehrer über Erzieher bis hin zu Eltern und Großeltern geimpft sind. Dann können sich die Kinder nur untereinander anstecken. Aber auch das ist nicht ohne Risiko.

Zumal es wieder neue Virusvarianten gibt… Wie gefährlich ist die neue Deltavariante und ist sie potenziell ansteckender als bisherige Mutationen?

Diese Virusvariante lauert derzeit auf Standby, sie wartet praktisch darauf, anzugreifen. Ich schätze sie mindestens auf dem Level von Alpha, wen nicht so gar darüber, was die Ansteckungsgefahr und die Intensität der Krankheit angeht.

Aber es sind jetzt doch mehr Menschen geimpft…

Ja, aber was mir Sorgen macht, sind die Daten aus England. Dort hat sich gezeigt, dass bei den noch nicht vollständig Geimpften nur eine dürftige Schutzwirkung vorliegt. Diese Schutzwirkung entsteht erst nach der zweiten Impfung. Bei uns sind derzeit etwa 25 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Das ist aber nicht das Gros, das zu Massenveranstaltungen geht, wo die Infektionsgefahr entsprechend höher liegt.

Christine Lambrecht (SPD), Bundesfamilienministerin, hat die Länder dazu aufgefordert, die Verhältnismäßigkeit der Maskenpflicht zu prüfen.
Christine Lambrecht (SPD), Bundesfamilienministerin, hat die Länder dazu aufgefordert, die Verhältnismäßigkeit der Maskenpflicht zu prüfen. | Bild: Bernd Von Jutrczenka

Wie heftig war denn das Ausmaß der Alpha-Variante?

Diese Variante hat sich unheimlich schnell ausgebreitet. Anfang März, als es darum ging, weiter zu lockern, baute sich eine neue Welle auf. Innerhalb weniger Wochen stieg der Anteil der Variante von zunächst weniger als zehn Prozent auf bis zu 90 Prozent bei den Neuinfektionen. Delta ist mindestens auf dem Niveau. Es ist leider zu befürchten, dass sie sich deutlich effektiver und schneller verbreiten wird als die bisherigen Varianten.

Heißt das, Sie rechnen mit einer vierten Welle?

Ich bin Optimist. Wenn wir die Lehren aus der Vergangenheit ziehen, was wir falsch gemacht haben… Denn obwohl wir gewarnt haben, hat die Politik Anfang März Lockerungen beschlossen – mit dem bekannten Effekt. Die Situation ist jetzt günstiger, weil mehr Menschen geimpft sind und wir mehr Aktivitäten nach draußen verlegen können. Nichtsdestotrotz müssen wir darauf achten, dass wir nicht zu nachlässig werden. Denn Delta wird weniger verzeihen als die bisherigen Varianten und Schwachpunkte ausnutzen.

Sie raten also von weiteren Lockerungen ab?

Lockern kann man schon, wie etwa keine Masken in Freien, aber eben keine generelle Aufhebung der Maskenpflicht. In dem Maß, wie es jetzt läuft, wird ja schon Einiges an Einschränkungen zurückgenommen, aber man sollte weiter Events vermeiden, wo die Kontaktfrequenz einfach noch zu hoch ist. Es gilt einfach nach wie vor: Je weniger Kontakte, desto geringer ist das Risiko von Übertragungen. Eine Konzerthalle jetzt schon voll zu besetzen oder größere Veranstaltungen zuzulassen, halte ich für nicht ratsam. Die Pandemie ist noch nicht vorbei.