Während seiner Zeit als „Bild“-Chefredakteur ist Kai Diekmann vielfach den mächtigen und gefährlichen Männern der Weltpolitik begegnet. Seine „Bild“-Ära endete im Jahr 2017. Er selbst sagt, er hätte es kaum für möglich gehalten, dass all seine Gesprächspartner sieben Jahre später noch immer einflussreich sind, viele mehr denn je: Erdogan, Orban, Putin, Trump.

Seine Begegnungen mit diesen Politikern hat er in seinem Buch „Ich war BILD“ festgehalten. Es erschien schon vergangenes Jahr – doch Diekmann sagt, das Interesse sei dieses Jahr größer denn je. Wie also blickt er auf die beunruhigenden Entwicklungen?

Herr Diekmann, ihr letztes Interview als „Bild“-Chef führten Sie mit Donald Trump, im Januar 2017. Jetzt könnte er wieder Präsident werden. Wie erklären Sie sich das?

Das Land und seine Gesellschaft sind tief gespalten, geradezu dramatisch polarisiert. Das hängt zuallererst mit den Abstiegsängsten der bisherigen weißen Mehrheitsgesellschaft zusammen. Und Donald Trump ist ein Populist, der von diesen emotionalen Auseinandersetzungen ganz, ganz hervorragend lebt. Der genialisch spürt, wie er sein Publikum ansprechen muss – ein Publikum, das sich von der etablierten Politik nicht gehört und nicht gesehen fühlt. Dazu ist er ein teuflisch guter Kommunikator.

Das macht ihn ungeheuer gefährlich, weil gerade die sozialen Medien wie gemacht sind für seine einfachen Botschaften. Die funktionieren dort besser als jede differenzierende Argumentation. Currywurst mit Pommes sind nun mal auch beliebter als Schwarzbrot oder Spinat. Und deswegen sind seine Chancen, erneut ins Weiße Haus einzuziehen, besonders groß.

Und was ist mit den Gerichtsverfahren gegen ihn?

Es gelingt ihm, die Verfahren, die gegen ihn laufen, verschwörungstheoretisch umzudeuten in den heimtückischen Versuch einer angeblichen Elite in Washington, ihn stoppen und den wahren Wählerwillen verhindern zu wollen.

Aber ist er denn tatsächlich so ein brillanter Kalkulator, der jeden Schritt und seine Wirkung mit einpreist? Oder ist er doch eher ein verirrter Geist?

Keinem verirrten oder gar dummen Geist gelingt es, Kandidat für das Amt des US-Präsidenten zu werden und alle Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Dazu braucht es eine ganze Portion Überlegenheit und auch ein Stück Genialität – ob uns das nun gefällt oder nicht. Nochmal: Wir erleben eine dramatische gesellschaftliche Veränderung in den USA.

Die weiße Mehrheit, die über zwei Jahrhunderte das Land dominiert hat, gerät zunehmend in die Minderheit. Diesen Menschen einzureden, ihr verliert eure Privilegien, ihr verliert das Land, ist eine Strategie, die ihn sehr, sehr erfolgreich macht. Es ist kaum zu glauben, wie es ihm immer wieder gelingt, Skandale und Affären, die jeden Kandidaten in Europa erledigen würden, sogar für sich zu nutzen.

Zum Beispiel?

Denken Sie an den Mugshot seinerzeit, also das Polizeifoto, das es von ihm gegeben hat. Damals war ich überzeugt: Das war es jetzt. Von wegen! Vor kurzem bin ich mal wieder in New York gewesen, in seinem Shop dort unten im Trump Tower, und da siehst du dann überall die T-Shirts und die Kaffeebecher, die er von sich verkauft mit diesem Mugshot! Selbst diese Ungeheuerlichkeit nutzt er zu seinem Vorteil.

Oder als er jetzt gerade wegen seiner Schweigegeldzahlungen schuldig gesprochen ist, hat er im gleichen Zug Spenden für seinen Wahlkampf in neuer Rekordhöhe erhalten. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, waren das über 100 Millionen Dollar. Von einem solchen Geldsegen kann Joe Biden nur träumen.

Der Mugshot von Donald Trump.
Der Mugshot von Donald Trump. | Bild: Uncredited

Er spricht ja aber auch ganz viele Dinge aus, die einfach nicht stimmen. Trotzdem verfangen diese Botschaften. Wie erklären Sie sich das?

Weil wir inzwischen eine mediale Realität zur Kenntnis nehmen müssen, in der viele Menschen in ihrer eigenen Filterblase leben und überhaupt nicht mehr für Fakten erreichbar sind. Social Media, die dahinterstehenden Algorithmen und die Künstliche Intelligenz, haben diese Fake-News-Welt in völlig neue Dimensionen befördert. Gleichzeitig bin ich ein solcher Tech-Optimist, dass ich davon überzeugt bin, dass wir mit der gleichen KI, die diese Fake News möglich macht, wir auch in der Lage sein werden, Fake News zu identifizieren.

Von Trump zu einem anderen gefährlichen Mann: Sie haben Wladimir Putin mehrfach getroffen. Wie konnte man sich so in ihm täuschen?

Ich weiß nicht, ob wir uns in ihm getäuscht haben. Vielleicht hat sich Putin ja verändert, auch das ist eine Möglichkeit. Ich neige zur letzteren Ansicht. Ich bin auf jeden Fall sehr skeptisch all denen gegenüber, die heute behaupten, sie hätten schon immer gewusst, was Putin für ein Verbrecher ist.

Ich erinnere mich noch gut an den Besuch von Wladimir Putin in Berlin im Oktober 2001, als er als erster russischer Präsident im Bundestag gesprochen hat und auf Deutsch gesagt hat: „Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Russland ein freundliches Land in Europa ist.“ Anschließend gab es stehende Ovationen von allen Fraktionen. Etliche, die heute schon immer gewusst haben wollen, was er für einer ist, hatten damals Tränen der Rührung in den Augen.

Das Bild zeigt eine Machtdemonstration: 2001 brachte Putin seinen für ein Interview angereisten Gast Diekmann (links) dazu, in Sotschi ...
Das Bild zeigt eine Machtdemonstration: 2001 brachte Putin seinen für ein Interview angereisten Gast Diekmann (links) dazu, in Sotschi mit ihm zu baden – in der von Putin geliehenen Badehose. | Bild: Kai Diekamnn

Was ist dann schiefgelaufen?

Was ich mir als Journalist heute vorwerfe, ist, dass wir Wladimir Putin nicht richtig zugehört haben, und nicht nur ihm. Auch jemand wie Michael Gorbatschow, den eigentlich nichts mit Putin verbindet, hat spätestens ab 2009 einen ähnlichen Text gesprochen. Vielleicht haben die Russen ja tatsächlich geglaubt, es habe nach Ende des Kalten Krieges Versprechen des Westens gegeben, was die Teilhabe an Wohlstand angeht, was die Teilhabe an politischen Entscheidungen angeht und fühlten sich anschließend getäuscht.

Sie haben in ihrer Wahrnehmung nicht ganz unrecht: Ob es nun um den Krieg im Kosovo oder das Bombardement von Libyen geht – im Allgemeinen wurden die Russen von den Aktionen des Westens überrascht. Das rechtfertigt natürlich den mörderischen Überfall auf die Ukraine in keiner Weise. Was wir übrigens im Verhältnis zu Russland immer übersehen: Der Angriff auf das World Trade Center in New York hat 2001 die gesamte Weltpolitik verändert.

Wie meinen Sie das?

Der Anschlag der islamistischen Terroristen hat die komplette Aufmerksamkeit in Beschlag genommen. Russland wurde für den Westen auf einmal langweilig. Und da muss bei Putin irgendwann die fatale Erkenntnis herangereift sein, wenn ich vom Westen ernst genommen werden will, muss ich mich im wahrsten Sinne des Wortes auf die politische Weltkarte zurückbomben.

Das hat er mit brutaler Konsequenz getan – und wir haben ihn dabei immer wieder rote Linien überschreiten lassen. Dazu kommt sein irrsinniger Männlichkeitswahn und seine feste Überzeugung, dass wir im Westen ängstlich und moralisch verrottet sind.

Und wie weit geht Putin in diesem Wahn? Was trauen sie ihm zu?

Wenn Putin Manöver anordnet, um den Einsatz taktischer Atomraketen zu üben, dann spielt er vor allem mit unserer Angst. Und er tut das ja mit uns Deutschen auch mit großem Erfolg. Ich war lange der Meinung, dass Olaf Scholz mit seiner vorsichtigen Haltung, was die militärische Unterstützung der Ukraine angeht, richtig liegt, wenn es darum geht, die Deutschen aus ihrer pazifistischen Komfortzone zu holen. Aber wie er sich aktuell gerade im Unterschied zum französischen Präsidenten Macron gegenüber Putin aufstellt, da fällt mir nichts mehr ein.

Was meinen Sie damit?

Nun, was macht denn Macron? Er bietet uns Deutschen beispielsweise den atomaren Schutzschirm der Franzosen an, spricht davon, Soldaten aus dem Westen auf ukrainischem Staatsgebiet einzusetzen. Damit versucht er, Putins militärisches Risiko zu erhöhen, den Ausgang seines Angriffs unkalkulierbar zu machen.

Und Scholz macht genau das Gegenteil, indem er ständig mitteilt, womit der russische Aggressor nicht rechnen muss, welche Waffen gegen ihn nicht eingesetzt werden. Das macht das Risiko für Putin und für jeden anderen potenziellen Angreifer überaus berechenbar. Das ist strategischer Wahnsinn.

Diekmann (links) im Gespräch mit SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz (Mitte) und Redakteur Dominik Dose.
Diekmann (links) im Gespräch mit SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz (Mitte) und Redakteur Dominik Dose. | Bild: Hanser, Oliver

Wie könnte es in der Ukraine weitergehen?

Putin wird nichts tun, bevor die Wahlen in den USA nicht entschieden sind. Der wäre ja total bescheuert, irgendwelche Zugeständnisse am Verhandlungstisch zu machen, bevor nicht klar ist, ob sein Kumpel Trump ins Weiße Haus zieht. Wenn Trump gewählt werden sollte, werden sich die beiden sehr schnell einigen – und zwar auf einen Deal zulasten der Ukraine. Und die wird dann gar nicht anders können, als zuzustimmen, ohne die weitere Unterstützung der USA haben sie keine Chance.

Und: Der Blutzoll auf der russischen Seite ist inzwischen so groß, dass Putin nicht mit etwas nach Hause kommen kann, was nicht als Sieg zu verkaufen ist. Ein Nicht-Sieg würde für Putin nicht nur sein politisches Ende bedeuten, sondern im Zweifelsfall, wie wir es aus Russland kennen, auch sein eigenes physisches Ende.

Ein Putin-Freund wurde neulich 80 Jahre alt, Gerhard Schröder. Sie waren auf seiner Geburtstagsfeier. Haben Sie nicht gezögert, die Einladung anzunehmen?

Nein, überhaupt nicht. Ich stehe ja nicht im Verdacht irgendeiner politischen Nähe zu Gerd Schröder. Zu unseren aktiven Zeiten haben wir uns bekämpft bis aufs Messer. Das meiste von dem, was Gerhard Schröder seitdem im Umgang mit Russland gemacht hat, halte ich für falsch, das sage ich ihm auch. Gleichzeitig ist er für mich so viel mehr als nur der Kumpel von Putin.

Gerhard Schröder verdanken wir Entscheidungen, die weit über seine Kanzlerschaft hinaus Bedeutung haben, ob es um die Ablehnung des Kriegs im Irak geht oder um die erfolgreiche Agenda 2010. Bei beiden Themen standen wir bei „Bild“ übrigens auf der falschen Seite der Geschichte. Im übrigen glaube ich, dass Schröder tief in seinem Innersten weiß, dass es diese Freundschaft zu Putin schon lange nicht mehr gibt und ihn der russische Präsident zuletzt nur noch benutzt hat.

Ein Schwenk in die Region. Sie haben sich einen legendären Streit mit der Zeitung taz geliefert. In diesem Zuge verewigte Peter Lenk sie nackt und mit einem Riesenpenis am „taz“-Gebäude. Haben Sie Lenk jemals getroffen?

Nein, wir sind uns leider nie begegnet, auch wenn es mich wirklich interessieren würde. Ich bin ja seit vielen Jahren dankbar für das Denkmal, das er mir da mitten in Berlin gesetzt hat – und das auch noch zu Lebzeiten!

Die Genossen von der „taz“ wollten es ja seinerzeit abbauen, aber dann hat sich zum Glück Peter Lenk persönlich zu Wort gemeldet und den lieben Kollegen mitgeteilt, sie hätten sie ja wohl nicht alle, er habe schließlich einen Vertrag. Das Denkmal bleibe natürlich, wo es sei. Damit war die Sache entschieden. Nun ja, die „taz“ ist inzwischen umgezogen.

Zum Abschluss: Sie sind gläubiger Katholik. Kommt ein Ex-Bild-Chef in den Himmel?

Ich hoffe es. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man in der anderen Location weiter unten die spannenderen Leute trifft.